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franzö sischen Aut omobildes i gns noch schnit tiger und
eleganter, zugleich aber narzisstisch und unbrauchbar
wurde: «a street car named desire», wie Bice Curiger
ihre um dies es O bjekt gruppierte, erste Ausstellung im
Kuns thaus na nnte. F onta nas Aufschlitzung der Lein-
wand vergleichbar, enthüllt diese aggressive und zer-
störerische Se ktion den Fetischcharakter des Auto s.
Auch bei den «Cazuelas» wird das ano nyme Massen-
pr odukt durch die E inwirkung der Kugel n und andere
Deformationen ind ividuell angeeignet und indem es
für den gewöhnlichen Zweck unbra uc hbar gemacht
wird, öffnen sich ästhetisch fundierte Erkenntnisdi-
mensionen.
Als letztes Vergleichsbeispiel aus dem Werke
Or ozcos ziehe n wir den Schädel bei, den er für die
Documenta 1997 mit einem sorgfältig der plas tischen
Gestalt f olgenden Schachbrettmuster überzog und
anspielungsreich «Black Kites» nannt e – schwarze
( Flug-)Drachen, aber auch Gauner, Schwindl er . Das
schwarzweis se Muster mag zwar auch an die Signal-
f ahnen der Autorennen erinnern, näher liegen die
Anknüpfungspunkte beim me xikanischen T ote nkult.
Hier lebt mit der Ausschmückung von Schädel n und
Gela gen auf den Gräbern ein urtümlicheres und rei-
cheres Verhältnis zu den Toten fort, gespiesen aus
spanisch-katholischen und präkolumbisch-azteki-
schen Wurzeln. Das Präparieren von Schädeln ge hört
wie die Töpferei zu den ältesten Kulturtechnik en der
M enschheit: Orozco radikalisiert das Ank nüpfen an
Archaisch-Frühzeitliches, wie es Giacometti und an-
dere M oderne mit f ormal übers etzte n Bezügen im
R ahmen des dama ligen Kuns tbegri ffs p ra ktizierten.
Dem Mexikaner scheint hier eine ungewöhnliche
anthropologische Unmittelbarkeit möglich, auch wenn
er sich im europäisch-nordamerikanischen Kunstsys-
tem bew egt. Inter es sa nterwe ise un ternehme n west-
liche, in Mexiko l ebende oder dort wirkende und mit
Or ozco befreundete Künstler wie Francis Alÿs und
A ntony Gormley ä hnlich dir ekte Übertragungen. Für
die Aufteil ung der Schädeloberfläche verwendete
Or ozco Com p ut ersimul ationen; auf einen dieser Aus-
drucke schrieb er: «Den Geist leeren auf s einem Weg
zur leeren Fülle, die leer ist von ir gendeine m Seins-
Gedanken.» – eine merkwürdig zwischen den pa rado-
xen F ormulierungen ös tlicher wie westlicher Mys tik
und dem hyb riden Chara kter eines T otenkopfes os zil-
lierende Aussage.
Eine der «Cazuelas» ist ein Topf mit einem Deckel,
eine Urne; einen offensichtlichen Bezug zw ischen
ähnlichen Gefässen und dem Totenkult zeigt die
Fotografie eines Gräberfeldes, die Or ozco nach der
Entstehung der «Cazuelas» in Mali machte . Hier eben-
so wie bei den andern auf dies er Reise ents tande nen
Aufnahme n verzic ht ete er auf Eingriffe und Arrange-
ments ; auch die durch einen Titel zugespitzten opti-
schen Zufallsereignisse, die er früher s uchte, fehlen.
Was sich ihm jetzt zeigte , sind eng mit Boden und
Landschaft verwachsene materielle Zeugnisse einer
elementaren Al ltags kultur, die in ihrer plastischen
Prägnanz und dem visuellen und met aphorischen
As soziationspotenzial die Di chte komplexer Kunstwer-
ke erreichen. Hier wie in «Cazue las (Beginnings)» wird
die alte Forderung Leonardos der «arte senz’arte», der
Kunst, die ihre Küns tlichk eit in ihrer dem Natürlichen
gl eichenden Selbstverständlichkeit aufhebt, auf einer
neuen Stufe erreicht. Während sich Orozco bei den
fo tografischen Abbildern auf die Erfassung des real
Vorhandenen beschränken kann, stellt er mit den
«Cazuelas» materielle Dinge her, die wie Gebrauchs-
gegens tände eines ländlichen Töpfe rs a nmuten, aber
statt Wasser oder Mais die sinnliche Dic hte und
Bedeutungsfüll e von Kunst transportieren. In einem
zunehm end von Virtuellem und irrealen Phantomen
erfüllte n Alltag demonstrieren sie die dem naturver-
haftet en Menschen unhintergehbare, elementare
Wirklichk eit. Christian Klemm
Die erwähn ten Werke Orozcos und das Zitat findet man in dem Kata-
logbuch zu sein er Ausstellung im Mus eum of Contemporary Art, Los
Angeles, und dem Museo Tamayo in Mexico City (2000, bes. S. 138).
Neben den dort veröffentlichten T exten wur den u.a. die Ausstellungs-
ka taloge der Kunsthalle Zü rich (1996) und der Kan aal Art Foundation
Kort rijk (1993) benutzt. Claudia Jolles danke ich für ihre für die
Gesamthochschule Kassel geschriebene Analyse der «Cazu ela s»,
Chan tal Crousel für die Einsicht in das Manuskript von Molly Nesbit für
eine vor der Publikation stehende Monographie über Orozco.