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schiedene n Derivaten, u.a. von Cima,
spiegelt;10 denk-
bar wäre auch ein simultanes, unabhängig e s Auftreten
des naheliegenden Sujets , z.B. in einem anonymen
l ombar dischen Holzs c hnitt, einer K o mposition Leo-
nardos, bei Ma ntegna und
Bellini.11
In der Figur des kreuztragenden Christus lassen
sich die beiden alten hieratisch-symbolischen Bilder
zusammenfassen: das Gesicht des Kreuztragenden
der «vera ikon» einerseits, der Schmerze nsma nn als
Inbegriff des Leidenden unter dem Kreuz anderer-
seits. Während die Betrachtung der meisten Stationen
der Passion und die Ikonen eher zu einer lyrischen
Versenkung in die Schmerzen des Gottessohnes und in
die diese verursachenden Sünde n des Gläubigen ein-
lade n, eignet dem Kreuztragenden ein unmittelba r er,
zur a ktiven Identifikation aufr uf ender Charak ter, der
auf den biblischen W orten Christi fusst: «Wenn einer
mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst und
nehme sein Kreuz auf sich und folge mir
nach.»12 So
darf man diese Bildformel als die letzte Umw andlung
der alten Imago Pietatis betrachten, die sowohl dem
neuen «realistisch» erzähl e nden Bildverständnis als
auch dem tiefen mentalen Umbruc h um 1500 ent-
sprach, der sich künstlerisch im Übergang von der
Früh- zur Hochrenaissance, im kirchlichen Ber eich in
der Re formation manifestierte.
Vergleicht man die Gestaltungen des Themas
durch die verschiedenen Künstler, kommt diese neue
O rientierung in unserem Gemä lde besonders klar zum
Ausdruck. Das noch l eicht T räumerische des Bildes
Bellinis , das in der Anordnung Mo ntagna am nächsten
s teht, der inmitte n der karikierte n Köpfe der Kriegs-
knechte e mphatisch Leidende Leonardos, das ambi-
val ent Sinnliche
Giorgiones13 weicht
einer fast nüch-
ternen, heroischen Klarheit; ein neues Me nschenbild
von fordernder Präsenz und strenger Mo nument alität
macht sich gelte nd, das eher an Ho lbein oder Raphael
erinnert. Die Figur ist nicht mehr nach links gerichtet,
wie in der Tradition des verschollenen, aber sehr ein-
flussreichen «Gangs nach Golgatha» van Eycks, der
noch in der kleinen Tafel Jan Brueghels der Samm-
lung Koetser nachwirkt, sondern der natürlic he n Vor-
w ärtsbew egung e ntspr echend nach r echts. Um die-
sen Bew egungsimpetus zu unterstreichen, scheut
Montagna selbst von der ungew öhnlichen, kaum prak-
tikablen A usric htung des Längsbalken nach vorn nicht
zurück.14 Der
Kopf ist nur soweit aus der Achse
gedreht, dass das Auge den Gläubigen direkt treffen
kann. Die rechte Hand weist vora us nach Golgatha, das
sich schwach vor dem düstern Licht des Horizonts
abzeichnet, sodass die konzentrierende Wirkung des
älteren schwarzen G rundes erhalten bleibt. Ebenso
greift das s timmungshafte , mo ndhaft kühle, stark
gebündelte Licht die plas tischen Formen der überle-
gen stilisierten Falten noch nicht an, wie es sich
gleichzeitig bei Giorgione und Tizian in der mal eri-
schen Auflösung der Oberfläche anbahnt.
Der epochal e Umbruc h im Bildvers tändnis von
der mittelalterlich symbolischen Auffas sung, in der ein
Abbild zeichenhaft für ein die V orstellung übersteigen-
des Urbild steht, zum realistischen Schnitt durch die
Se hpyramide, der die gemalte Dars tel lung mit der
gegenständlichen Ers c heinung zusa mmenf all en läs st,
war dama ls so fr isch, dass die spezifischen Eigen-
he iten der neuen Bildform noch nicht konventionell
selbstverständlich waren, sondern für die Gestaltung
von themenspezifischen Aussagen einges etzt werden
konnten.15 Mit
gema lten Brüstungen, Binnenra hmen,
A rkaden oder F ens tern und anderen illusionistischen
Mitteln d iffer e nzierten die Mal er, bes onders bezie -
hungsreich Mas accio und Mantegna, in ve rschiedene n
Realitätsebenen das V erhältnis des Bildinhaltes zum
Betrachter. Indem hier das Kreuz genau bildparall el,
rings bis zum R ahmen lauf end und mit täuschend echt
gemalter Holzoberfläche gegeben wird, fällt es optisch
mit der Bildebe ne und dem an der Wand hängende n
Bildträger zusammen. Hier wird eine ästhetische
Reflexion über die Re alität des Bildes als solches und
zugleich des Gemäldes als O bjekt demons triert , die
der Zeitgenosse Palmezzano e xplizit machte , indem er
bei s einem «Kreuztragenden Christus» ein Schildchen
mit se iner Signatur auf dem Kreuzholz wie auf einer
Bildta fel
befestigte.16 Die
Figur Christi erscheint so
il lusionis tisch in den Raum des Betrachters gescho-