Full text: Jahresbericht 2003 (2003)

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schiedene n Derivaten, u.a. von Cima, 
spiegelt;10 denk- 
bar wäre auch ein simultanes, unabhängig e s Auftreten 
des naheliegenden Sujets , z.B. in einem anonymen 
l ombar dischen Holzs c hnitt, einer K o mposition Leo- 
nardos, bei Ma ntegna und 
Bellini.11 
In der Figur des kreuztragenden Christus lassen 
sich die beiden alten hieratisch-symbolischen Bilder 
zusammenfassen: das Gesicht des Kreuztragenden 
der «vera ikon» einerseits, der Schmerze nsma nn als 
Inbegriff des Leidenden unter dem Kreuz anderer- 
seits. Während die Betrachtung der meisten Stationen 
der Passion und die Ikonen eher zu einer lyrischen 
Versenkung in die Schmerzen des Gottessohnes und in 
die diese verursachenden Sünde n des Gläubigen ein- 
lade n, eignet dem Kreuztragenden ein unmittelba r er, 
zur a ktiven Identifikation aufr uf ender Charak ter, der 
auf den biblischen W orten Christi fusst: «Wenn einer 
mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst und 
nehme sein Kreuz auf sich und folge mir 
nach.»12 So 
darf man diese Bildformel als die letzte Umw andlung 
der alten Imago Pietatis betrachten, die sowohl dem 
neuen «realistisch» erzähl e nden Bildverständnis als 
auch dem tiefen mentalen Umbruc h um 1500 ent- 
sprach, der sich künstlerisch im Übergang von der 
Früh- zur Hochrenaissance, im kirchlichen Ber eich in 
der Re formation manifestierte. 
Vergleicht man die Gestaltungen des Themas 
durch die verschiedenen Künstler, kommt diese neue 
O rientierung in unserem Gemä lde besonders klar zum 
Ausdruck. Das noch l eicht T räumerische des Bildes 
Bellinis , das in der Anordnung Mo ntagna am nächsten 
s teht, der inmitte n der karikierte n Köpfe der Kriegs- 
knechte e mphatisch Leidende Leonardos, das ambi- 
val ent Sinnliche 
Giorgiones13 weicht 
einer fast nüch- 
ternen, heroischen Klarheit; ein neues Me nschenbild 
von fordernder Präsenz und strenger Mo nument alität 
macht sich gelte nd, das eher an Ho lbein oder Raphael 
erinnert. Die Figur ist nicht mehr nach links gerichtet, 
wie in der Tradition des verschollenen, aber sehr ein- 
flussreichen «Gangs nach Golgatha» van Eycks, der 
noch in der kleinen Tafel Jan Brueghels der Samm- 
lung Koetser nachwirkt, sondern der natürlic he n Vor- 
w ärtsbew egung e ntspr echend nach r echts. Um die- 
sen Bew egungsimpetus zu unterstreichen, scheut 
Montagna selbst von der ungew öhnlichen, kaum prak- 
tikablen A usric htung des Längsbalken nach vorn nicht 
zurück.14 Der 
Kopf ist nur soweit aus der Achse 
gedreht, dass das Auge den Gläubigen direkt treffen 
kann. Die rechte Hand weist vora us nach Golgatha, das 
sich schwach vor dem düstern Licht des Horizonts 
abzeichnet, sodass die konzentrierende Wirkung des 
älteren schwarzen G rundes erhalten bleibt. Ebenso 
greift das s timmungshafte , mo ndhaft kühle, stark 
gebündelte Licht die plas tischen Formen der überle- 
gen stilisierten Falten noch nicht an, wie es sich 
gleichzeitig bei Giorgione und Tizian in der mal eri- 
schen Auflösung der Oberfläche anbahnt. 
Der epochal e Umbruc h im Bildvers tändnis von 
der mittelalterlich symbolischen Auffas sung, in der ein 
Abbild zeichenhaft für ein die V orstellung übersteigen- 
des Urbild steht, zum realistischen Schnitt durch die 
Se hpyramide, der die gemalte Dars tel lung mit der 
gegenständlichen Ers c heinung zusa mmenf all en läs st, 
war dama ls so fr isch, dass die spezifischen Eigen- 
he iten der neuen Bildform noch nicht konventionell 
selbstverständlich waren, sondern für die Gestaltung 
von themenspezifischen Aussagen einges etzt werden 
konnten.15 Mit 
gema lten Brüstungen, Binnenra hmen, 
A rkaden oder F ens tern und anderen illusionistischen 
Mitteln d iffer e nzierten die Mal er, bes onders bezie - 
hungsreich Mas accio und Mantegna, in ve rschiedene n 
Realitätsebenen das V erhältnis des Bildinhaltes zum 
Betrachter. Indem hier das Kreuz genau bildparall el, 
rings bis zum R ahmen lauf end und mit täuschend echt 
gemalter Holzoberfläche gegeben wird, fällt es optisch 
mit der Bildebe ne und dem an der Wand hängende n 
Bildträger zusammen. Hier wird eine ästhetische 
Reflexion über die Re alität des Bildes als solches und 
zugleich des Gemäldes als O bjekt demons triert , die 
der Zeitgenosse Palmezzano e xplizit machte , indem er 
bei s einem «Kreuztragenden Christus» ein Schildchen 
mit se iner Signatur auf dem Kreuzholz wie auf einer 
Bildta fel 
befestigte.16 Die 
Figur Christi erscheint so 
il lusionis tisch in den Raum des Betrachters gescho-
	        
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