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Der junge amerikanis c he Künstler David Chieppo
(*1973) lebt und arbeite t seit einigen Jahren in Zür ich.
Er gehört zu einer neuen Künstlergeneration, die ver-
mehrt w ieder mit dem Medium Zeichnung arbeitet,
dieses aber forma l und inhaltlich völ lig neu definiert.
Im Unterschied zu den Vorgängern der sechziger und
siebziger Jahre, bei denen noch das Prozesshafte der
Zeichnung im V ordergrund stand, interessieren sich
die zeitgenössischen Küns tl erinnen und Künstler
nicht mehr für abstrakte F orme xperimente . Für sie ist
die Zeichnung kein «Verb» mehr, wie das Mel Bochner
1969 noch verkündete, sondern vielmehr ein Substan-
tiv. Inhalt e und erzählerische Elemente sind g rund-
legend – auch in David Chieppos Ze i chnungen. Es geht
darin nicht um ein formal es «non finito», s ondern
vielmehr um ein gedankliches. Chieppos Werke sind
Aphorisme n. Sie las sen sich in wenigen Augenblicken
erfassen, lösen aber Reflexionen aus, die viel tie fer
gehen und w eiter reichen.
Auf den ersten Blick erinnern viele von Chieppos
Zeichnung e n an Kinderkritzeleien. Dies er bewusst
übers teigerte Dil ettantis mus verbindet Chiepp o mit
vielen se iner zeitgenössischen Zeichnerkollegen und
ist Ausdruck dafür, dass der Zugang zum M edium
Zeichnung auch für ihn nur noch gebr ochen möglich
ist. Oft verbindet Chieppo diese kindlich-naiv wirkende
Sprac he aber gerade mit brutalen Inha lten, wie bei-
spielsweise im Werk «Sma ll Rape Scene on Green
Background» (2002). Chieppo vereint hier mehrere
Zeichnung e n, die das brisante Thema einer Vergewal-
ti gung ande uten, zu einer Coll age auf grünem Hinter-
gr und. Der Titelzusatz «On Green Background» ist
dabei eine ir onische Referenz an die abstrakten
Formexperimente der Minimal Art, und auch im ver-
niedlichenden «Sma ll» schwingt deutlich Ir onie mit.
In seinen Collagen e rgänzt David Chieppo die
Zeichnungen oft mit Texten. Diese können wie bei
dem mit dicken schwarzen Str ichen durchgestriche-
nen «FUCK YOU», das in «Sma ll Rape Scene on Green
Background» unter den Zeichnungen durchschim-
mert, Ausdruck von Ärger und Wut sein, anders wo
aber von äusserster Verletzlichkeit zeugen. So gibt in
«Family Summer Holiday» (1 999/20 02) ein selbst ver-
fasster, maschinengeschriebener Text Aus kunft über
die Befi ndlichk eit des Künstlers. Er beschreibt einen
kühlen Winterta g und die Suche nach einer Möglich-
keit, sich auch in einer solch unangenehmen Situation
wohl zu fühl en. In einem übertragenen Sinn the mati-
siert David Chieppo seine eigene Situation als Künst-
ler und seine Suche nach Anerkennung in der F amilie.
In Verbindung mit dem Text nimmt so das kecke Fa-
milienporträt in kurzen Hosen eine andere Bedeutung
an. Denn die winterliche Kälte des Texts k ontras tiert
deutlich mit der sommerlichen Beinbekleidung. Of-
fensichtlich schwebt auch hier das Unheil über der
vermeintlichen Idylle. Das krakelig ges c hriebene
«FAMILY», das ir gendwie an den Schr iftzug «Murder»
aus dem Film «Shining » erinnert, verstärkt das ungu-
te Gefühl – ebenso wie die merkwür digen schwarze n
Schatte n im Hintergrund.
In der Coll age «Corne r Trouble» (2002 ) zeichnet
Chieppo mit wenigen Strichen einen Freund, der in
seinem Ate lier schläft. Es ist eine sehr feine, fast
schon zerbr echlic he Zeichnung. In Verbindung mit
dem Titel und dem Auto stellt sich allerdings plötzlich
die F rage, ob es sich beim Liegenden nicht um ein
Unfallopfer handelt, das in Schwierigkeiten ist. Gerade
diese Ambival enz der Bildaussage ist charakteristisch
für Chieppos Werk – auch für seine Malereien. Er
scheut sich nicht, in den meist kleinformatigen Bil-
dern auch grosse The men anz uschneiden. Wie in
seinen Ze i chnungen ist aber auch in den Malereien
immer ein Gefühl von grosser Einsamkeit spürbar .
«We die alone» (2002 ) fasst diese Stimmung sympto -
m atisch zusammen. Mirjam Varadinis
DAVID CHIEPPO