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CLAUDE LORRAINS
«TANZ DER JAHRESZEITEN»
Vor bald zehn Jahren kam, vermittelt durch den nun
vor kurzem verstorbenen Adolphe Stein, ein erstes
Gemälde von Cla ude Lorrain ins Kunsthaus, ein mor-
genfrisches Frühwerk, des sen Komposition noch in
der niederländisch-italianisierenden Tradition Brue-
ghels und Brils steht. Bereits schon ganz von se inem
klar l euchtende n Licht erfüllt, fliesst ein glitzernder
Ber gbach durch den schattigen Wie sengrund, auf dem
sich eine kl eine Jagdgesellschaft versammelt. Viel-
leicht klingt in der Szenerie mit dem F e lsbogen, dem
arco naturale, eine E rinnerung an Ovids Beschreibung
des Bades der Diana nach – die Jäger aber sind modern
gekl eidet, Genrefiguren, wie sie damals die holländi-
schen Künstler in Rom gern zum Thema ihrer Bilder
machte n.1
Wenig späte r fo lgte ein r epräse ntative s
Hauptwerk der Reifezeit, die Pastorale mit dem Kon-
stantinsbogen von 1648, von der Claude für den Zür-
cher F eldzeugmeister Joha nn Georg Werdmüller eine
Wiederholung malte. Im Vordergrund schaut ein Jäger
mit einer Flinte dem Maler über die Schulter, der vor
unseren Augen eine im Abendlicht v erklärte Idea lland-
schaft entstehen läs st: Vorn ziehen durch eine stille
Furt zeitl os gekleidete Landleute nach Hause, wäh-
rend hinter einer Bodenwelle die Ruinen des Kolosse-
ums und des römischen T r iumphbogens aufrage n. Es
ist eine im Werke Claudes einzigarti ge Meditation über
die beiden zentralen Nostalgievorstellungen seiner
Epoche, die auch seine künstlerische Visio n be stimm-
ten: die unerreichbare Grösse der untergegangenen
Antik e eine rseits , das geschichtslos glücklich schlic h-
te Leben im mythischen Hirtenland A rkadien anderer-
seits.2
An dies es bek enntnisha f te grosse P r ogrammbild
schliesst sich nun, ebenfalls dank einer grosszügigen
Spende des von Peter A lther verwalteten Holenia Trust,
ein nicht minder persönliches Spätwerk an, die l etzte
seiner seltenen kleinen Kupfertafeln und seine einzig e
Allegorie: Apollo, der den Reigen der Jahreszeiten zum
Lyra spiel enden Chronos, dem Gott der Zeit,
führt .3
Anf angs 1663 war Claude ernsthaft kra nk; am 26. Feb-
ruar nahm er das Liber Veritatis, das V erzeichni s
seiner Werke, in dem er seit 1635 jede Komposition
skizziert und den Auftraggeber notiert hatte, zählt e die
Zeichnungen und hielt auf dem nächst en leeren Blatt
ihre Anza hl, 157,
fest.4
Zwei Tage später, bettlägerig
und den Tod erwartend, machte er ein ausführliches
Testament. Auf die Präa mbeln folgt zunächst, was er
seiner minderjährig e n Ziehtochte r Agnese zudachte.
Sodann bes timmte er das Vermächtnis für s einen Nef-
fen Jean Gellé e, und hier finden wir das Gemä lde zum
ersten Mal beschrieben: «un quadr o con la sua corni ce
indorata che rappresenta il ballo delle quattro st agio-
ni».5
Jean kam als junger Mann nach Rom, um seinem
Onkel zu hel fen, und w ohnte bis zu dessen Tode 1682
bei ihm. Cla ude war nicht v erheirate t und pflegte zeit-
l ebens den Konta kt zu s einen lothringischen Verwand-
ten, wie er sich auch stets «Lorenese» nannt e. 1663
setzte er seine beiden Brüder in Chamagne als
Haupterben ein; in einem Zusa tz von 1670 stellte er
diesen Jean gleich, den er als seinen Adoptivs ohn
betrachten
mochte .6
In seine m Testament erwähnt er
nur acht Bilder, die vermutlich von ihm stammen,
wobei nur vier zu identifizieren sind: Je eines vermach-
te er Agnese, Jean und in einem Zus atz von 1682 sei-
nem a ndern Neffen Joseph, der gegen 1680 nach Rom
kam, um Theologie zu studieren. Auf die Rückseite
dieses letzten Bildes schrieb er «io Claudio Gellée…
lascio questo quadr o al mio nepot e Giuseppe Gellee
per havere di me memoria Roma
1680.»7
Während es
sich hier nur um eine allerdings ebenfalls einzigarti ge ,
bildhafte Stud ie mit Schafe n handelt, ist der «Tanz der
Jahreszeiten» eine vollendet ausgestaltete Kom positi-
Hinweise auf einige Neuerwerbungen