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sich die Kul tur en und Identitäten immer mehr anzuglei-
chen scheinen, sich gleichzeitig aber die Ungleichheiten
und Ausgrenzungen verstärken. Van Lieshout befragt
stereotype Bilder aus den Medien, rückt Randgruppen
ins Zentrum seiner Arbeit und thematisiert auch die
Schattenseiten der Globalisierung – wie z.B. in der
Arbeit «Lariam» (2001). Für diese Video-Arbeit reiste van
Lieshout nach Afrika, um sich in Ghana von einem Rap-
Lehrer das Rappen beibringen zu lassen. Als Textgrund-
lage diente ihm der Beipackzettel des Anti-Malariamit-
tels Lariam, das sich die lokale Bevölkerung meist gar
nicht leisten kann. Gezeigt hat der Künstler dieses Video
in einer überdimensionierten Lariam-Medikamenten-
schachtel, die als Kino diente. Strassenkultur, westli-
cher Kulturimport, soziale Ungerechtigkeit, Video und
skulpturales Environment verbinden sich in dieser
Arbeit zu einem Ganzen. Zudem wird deutlich, wie das
oben erwähnte «ME,WE» auch auf einer weiteren Ebene
für den Künstler grundlegend ist: nämlich im Sinne
eines interaktiven Kuns tbegriffs.
Erik van Liesho ut lebt in Rotterdam in einem
Quartier mit einem sehr grossen Ausländerteil von
insbes onders muslimischen Einwande r ern. Diese
Umgebung fliesst oft in seine Arbeiten ein – sei es als
Zeichnung oder Video. So z.B. in der 2003 an der Bien-
nale in Venedig gezeigten Video-Arbeit «Respect»
(2003 ) – sozusagen einem multikultur el l en Melodrama
auf den Stras sen von Rotterdam, das zeigt, wie van
Lieshout unter den marokkanischen Jugendlichen auf
der Strasse einen Lover für seine n Bruder sucht.
Homos e xualität und Ma c hismo -Kultur verbinden sich
dabei zu einer irritierenden und explosiven Mischung.
Auch in den neuesten Arbeiten ist ein sozial-poli-
tischer Hintergrund deutlich spürbar. «Fatima» steht
auf einer der Zeichnungen. Auf einer anderen sieht
man, wie sich der Künstler als Selbstmordattentäter
darstellt – wobei sein blonder Kopf frappant zu den aus
den Medien bekannten Bildern kontrastiert. Geradezu
als Kontrapunkt zu dieser Arbeit kann man das zweite
Selbstportrait in dieser Serie sehen, wo sich der Künst-
ler nackt auf einer Liege präsentiert. In Anlehnung an
Sex-Annoncen schreibt er seinen Namen und seine
Telefonnummer mit aufs Bild und kehrt damit die tradi-
tionellerweise für Frauen verwendete Bildformel um.
Video und Zeichnungen sind bei Erik van Lies hout
immer eng verbunden. Es sind zwei parallele Aus-
drucksweisen, die sich ergänzen und am Schluss oft
zu einer ra umumfas senden Ins tal lation zusa mmenfü-
gen. Die neu erworbenen Arbeiten entstanden im
Umfe ld des Videos «Up!» (2005 ) – eines Films , in dem
van Lieshout die Perspektive nach innen dreht und die
Zuschaue r an einer fiktiven Psycho-Therapie teilhaben
läs st. «The rapy» steht denn auch auf einem der Blät-
ter. Auf einem anderen «I have my fear I am not my
fear», wobei der Verdacht entsteht, dass sich der
Künstler damit vor allem selber beruhigen möchte.
Denn die gif tig-farbig e Kugel in seinen Händen scheint
jeden Mome nt zu explodieren. In diesem Sinn lädt sich
auch das vorhin erwä hnte Selbstportrait als Bomben-
attentä ter plötzlich anders auf: es br ingt die Verletz-
lichkeit des Künstlers zum Ausdruck.
Trotz dies er existentiellen Mo mente hat die ganze
Serie auch etwas Ir onisches . Denn sie führt einerseits
das Cliché vom Künstler ad absur dum, der aus seinem
Innern genial e Werke schafft, und gibt gleichzeitig
auch einen Kommen tar ab zu der heute sehr beliebte n
Selbstentblössung im F ernse hen und Internet.
Wie schon in den früheren Zeichnung e n, bl eibt
auch in dies en Werken der kräf tige, ausdrucksstarke
Strich, verbunden mit einer comicartig e n Bildsprache,
ein charakteristisches Merkmal. Doch in neuester Zeit
spielt auch die Farbe eine wic htige Rolle. Van Lies hout
wurde ursprünglich als Maler aus gebildet und dies er
Hintergrund ist in den neuesten Werken deutlich spür-
bar.
Miriam Varadinis