88
... keine Distanz mehr
(wie schön war die Nähe zur Zeit der Distanz!),
keine Erscheinung, keine Dimension mehr ....
Jean Baudrillard in «Subjekt und O bjekt fraktal»,
über den Verlust von Raum und Zeit.
Der Sinn der Kunstwerke kann sich zweifellos nur ent-
falten, wenn sie ric htig wahr gen ommen wer den kön-
nen. Doch diese W ahrnehmung umfasst nicht nur das
Ma teriell e, die naturwissenschaftlich de terminierte
Ma terialität eines Kunstwerks, sondern auch die Aus-
druckswerte und inhaltlichen Qualitäten e benso wie
die vi e lfältigen Bezüge zwischen dies en beiden Polen.
Diese Problematik spitzt sich in der Entfaltung der
illusionistischen Tiefe zu, wie sie die meisten Gemä lde
seit dem 15. Jahrhundert anstreben; jedes ist als ein
Ex periment über die Kaus alität en zwischen Licht und
Raum zu betrachten.
In unsern beiden Ausstellungen «Gemä ldeober-
fläche und Bildwir k ung» 1996 und «Die Ölgemälde,
ihre Technik und ihre Erhaltung» 2005 haben wir diese
Kernfrage an mehreren Beispielen dargelegt und dabei
aufgeze i gt, welche Zerstörungen an der Subs tanz der
Kunstwerke entstehen, wenn diese aus der be schränk-
ten Sicht unserer E poche lediglich als Konglomerat
von Material verstanden werden. Bereits eine als
gering fügig e rachtete Massnahme, wie die Reinigung
eines Gemäldes, kann die Werke und die W ahrnehm-
bark eit von Raum und Licht e ntscheidend beinträch-
tigen.
Im F o lgenden wollen wir aufzeichnen, welche
Re s taurierungsmode n in den letzten Jahrzeh nten
gepfl egt wurden, und wie wir ver sucht habe n, Kunst-
werke zu behandeln, um die von den Künstlern beab-
sicht igten Wirkungen zu erhalt en und zur Geltung zu
b ringen.
Res taur atorische Behandlung der Gemälde
Gemälde auf Lei nwand
In der Behandlung schadhafter Leinwä nde standen
sich in den sechziger Jahren zwei Richtungen gegen-
über. Die nach Italien und Frankreich ausgerichteten
W erks tätten in Europa s etzten die handw erklic he
Kleisterdoublierung ein, während die sich an eng-
lischen Praktiken Orientierenden nur Wachsdoublie-
rungen gelt en liessen, da sie allein dieses Vorgehen
für naturwis se nschaftlic h untermauert hiel ten. Die
Fachpresse war damals angelsächsisch geprägt. Da
Frau Canetti-Buschor, die als erste professionelle
Restauratorin bishe r allein im Kuns thaus tätig war,
ihre Ausbildung im nach Italien ausgerichteten
Doerner-Institut in München genos s und ich eine
angelsächsisch orientierte Basis durch Thomas Bra-
chert (da mals im Sc hwe izerischen Institut für Kuns t-
wis s enschaft) und Rolf Straub (Akademie in Stuttgart)
hatte, se tzten wir bald die eine, bald die ander e Kon-
se r vierungs technik ein. Meine Anstellung 1967 erfolgte
wegen meine r V orkenntnisse in der Wachsdoublie-
rung. Es herrschte zwischen uns ein gegenseitiges
Einverständnis, in diesem Ber eich zu handeln, und so
wurde ein Unte r dr uckheiztisch angeschafft. Wir haben
beispielsweise Bonnards «Signac und seine Freunde
im Segelboot» mit Kleister, hingegen Füsslis «Schwur
der drei Eidgenossen» mit Wachs doubliert.
Brachert hatte damal s einen Artikel in der «Mal-
technik» publiziert, in dem er die F or derung aufstellte,
dass alle Gemälde mit Wachs zu doublieren seien,
bevor man sie ausleiht. Das wurde von manchen als
restaurierungsethischer Grundsatz übernomme n.
Dies schien uns weit übers Ziel hinausgeschos sen. Die
sich abzeichnenden Alterskrakelüren bei Mondrians
«T ableau» Nr. 1 (Los enge) von 1925, welche sich quer
EIN RÜCKBLICK AUF VIERZIG JAHRE
RESTAURIEREN IM KUNSTHAUS – IRRTÜMER
UND E RKENNTNIS SE