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Die Gemäldeob e rfläche.
Die Grundbedürfnisse der Ölmalerei
Die Ölmal erei beruht auf der Wirkungsw eise des Tie-
fenlichtes. Zu des sen Entfaltung muss die Farbschicht
fallweise eine a ngemes sene Sättigung aufweisen. Bei
den Altmeister-Gemälden bilden Lasuren und tradi-
tionelle Naturharzfirnisse die optimal e Grundlage
dazu.
Seit einigen Jahren hat man vielerorts mit auf
Missverständnissen beruhenden naturwissenschaft-
lichen Argumenten T erpentinöl als Lösungsmittel für
Firnisha r ze abgelehnt und stattdessen zu schnell
flüc htigen Lösungsmitteln gegriffen. Während T erpen-
tinöl gerade wegen se iner langsamen Flüchtig k eit die
Harze optimal in die Farbschicht einbindet, verdunsten
die schnell flüchtigen Lös ungsmittel zu ra sch, und der
Firnis bleibt nur locker an der O berfläche haften. So
entsteht keine genügende Sättigung der F arbschi cht,
und damit wird auch die Entfaltung des Tiefenlichtes
ungenügend err eicht. Die Gemälde e rscheinen flach,
grau und trüb, ähnlich der Wirkung von herkömm-
lichen Kunstharzfirnissen. Das gilt in einges c hränk tem
Masse auch für die Beha ndlung von ungefirnissten
Gemälden.
Das gefirnisste Gemälde
Das Denken der Restauratoren war von den Gepflo-
genheiten der Akademien geprägt. Das küns tl erische
Schaffen war dort auf Vollendung angel egt. Des halb
wur den alle Gemälde gefirni s st; selbst die Ölstudien
mussten von den Restauratoren und Händlern mit Fir-
nis zu vollendeten Gemälden umfunktioniert werden.
Vom angelsächsischen Raum aus gehend, for-
cierten die Restauratoren im Ringen um A nerk ennung
den Einsatz naturwissenschaftlicher Kenntnis se und
Me thoden, was zwischen 1946 und 1963 u.a. zur «Clea-
ning controversy» führte. Man argumentierte, dass die
Kunst vö llig objektivierbar sei und alleine aus der
Ölfarbschicht bes tünde. Alles, was darüber läge, sei
Schmutz und des halb austauschbar . Jede gelbliche
Schic ht auf einem Gemälde meinte man unter UV-
Licht nachweisen zu können, musste demnach eine
Verfälschung sein und war zu eliminier e n. Was wir
heute als ori ginal e Lasuren betrachte n, waren als sol-
che nicht zu erkennen, weil diese unter dem Mikro skop
auch nur als partielle Schmutzschic hte n e rschienen.
Grund s ätzlich empfand man jeden alten Fir nis als zu
dick und als Greuel des 19. Jahrhunderts. Ohne die
Anforderungen zu beachten, welche die unterschied-
lichen Gemälde gemäss ihrem künstlerischen Cha-
rakter verlangen, war man bestrebt, neutralis ier ende
Firnisse anzu wende n, die für alle Zukunft glasklar und
hauchdünn verbleiben sollten, damit künftig Restau-
rierungen niemals mehr zu erfolgen hä tten. Die
gewünschten idealen Firnisse fand man dann in den
Angeboten der chemischen Industrie. Heute erkennt
man zum Teil das Ungenüge n der damaligen Kunst-
harzfirnisse und er setzt diese durch ebenso wenig
erprobte neue Produkte, von denen man sich wieder
die definitive Lösung verspricht.
Frau Can etti hielt an der Münchner T radition der
N aturharzf irnis se fest, während ich zunächst bei
Stra ub auf Kuns tharz eingeschworen wur de, um
danach bei Brachert zu erleben, welche Probleme
damit auf den Gemälden entstanden. So begrüsste
auch ich eine traditionellere Vorgehensweise. Noch
vor 1970 tauchte dann gleichwohl eine Flasche mit
«Vernis à Re toucher» von Lefranc auf, da der Chemi-
ker Bruno Mühl ethaler vom Landesmuseum uns zu
überzeugen versta nd, dass dies es Produkt praktisch
identisch mit Dammarfirnis sei, was natürlich nicht
stimmte. Ein paar w enige Gemälde müssen mit die-
sem Firnis behandelt worden sein, wa hrscheinlic h
Füsslis «Der Künstler im Gespräch mit J. J. Bodmer»,
das heute so grau wirkt. Wir haben damit aber auch
erlebt, wie schnell man sich von einer anderen Mei-
nung hinreissen lässt – ein Problem, das wir gerade in
unserem Beruf wiederholt festgestellt haben.
Firnisabnahmen haben wir nach ungüns ti gen
Erfahrungen, etwa bei der Madon na von F rance sco
N apolita no, nur ausnahmsweise praktiziert, wenn bei-