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Schon früh hat dies er Künstler Werke geschaffen,
die in die Kunstgeschichte des 20. Jah r hunderts ein-
gegangen sind, Rasterbilder, die auf die Realität der
Massenmedien verweisen, die Polke aber immer von
Hand malt – im Gegensatz zu den im Siebdruckverfah-
ren auf die Leinwan d übertragenen Raster der Pop-
Art. Die frühen Werke von Lichtenstein und W arhol
entstehen fast gleichzeitig wie die f rühen Rasterbilder
von Polke. Doch ist bei Polke in der E ntwicklung seine s
Œuvr es über die Jahrzehnte eine ganz andere, «euro-
päische» Aus ri chtung nachvo llziehbar .
Früh experimentiert Polke mit den Punktemus-
tern, was er bis heute mit grossem Erfindungsreich-
tum weitergetrieben hat. Ein im Clichéras te r wieder-
gegebene s Bild ist zugleich ein Kipp bild. Wie die
Zeitungsbilder, die wir tagtäglich bloss auf ihren News-
Gehal t hin wahrne hmen, lässt es sich genau so gut nur
auf die einzelnen «Pix el», die Punkt eauflö sung, hin
betrachten . Ein Vexierspiel, das Polke immer wieder in
sein Werk einfliessen lässt, und das auch in beiden der
nun in der Samm lung des Kunstha use s zu se henden
Werken, «Schattenkabinett» und «Levitation», als
«bildgebendes Verfahren» zur Anw endung kommt.
Und doch sind sie sehr unterschiedlich in Konzept
und Bildaufbau. Beide Bilder weisen das Format 300 x
480 cm auf und sind in Mischtechnik auf Polyester-
te xtilgew ebe gemalt.
In «L e vitation» sehen wir eine Gr uppe von Men-
schen in sehr gr obk örnigem Raster wiedergegeben,
die erstaunt oder vielleicht entse tzt nach oben schau-
ten. Einen Kontras t zu dem Schwarz auf dem «gebr o-
chenen» Weiss des Malgrundes – eben nicht Leinwand,
so ndern eines jener semitransparenten Gewebe, die
der Künstler mit ma ttem Lack behandelt hat, bevor er
es bema lt – bilden die Schüttspuren von roter und
gelbe r Farbe auf der r echten Seite des Bildes. Eine
raffinierte Zwe iteilung beherrscht das Bild: Die linke
Seite scheint dem Figurativen, die r echte der Abs trak-
tion gewidmet zu sein. Immer sind bei Polke gleich-
sam en pas sant Anspielungen auf die Kunstgeschichte
und auf das Wesen der Kunst s elber auszumachen,
doch immer in überraschend leichthändigem, ge rade-
zu schelmischem Ton. Das Raffinement liegt in der
Führung unseres Blicks. Als Betrachte r schaue n wir
zuers t auf die G ruppe. Der konditionierten Leserich-
tung in der wes tlichen Welt f olgend, setzt das Auge
links an, um anschliessend auf die an Feuer, Glut oder
Blut – aber auch auf die an Action-P ainti ng und Tachis-
mus – gema hnenden Farbspuren gelenkt zu werden.
Wir ahnen bald, dass der Gesichtsausdruck der Men-
schengrup pe ein Spiegelbild unserer Emotionen dar-
stellt: Schuf der Künstler somit eine Art bildliches Per-
petuum mobil e, in welchem das Publikum in all seinen
voraussehbaren Re aktionen Teil von dessen a usgetüf-
tel ter ges ta ltpsychol ogischer M echanik geworden ist?
Das Raffinement findet sich auch in der Machart.
Die feine Netzstruktur des doppellagigen Textils lässt
die von hinten g e schüttete Farbe aus der Na hsicht sich
im Stakkato in kleine Linsenformen auflös en. «Levita-
tion» ist ein kräftiges, vital es Werk, das die charakte-
ristischen Merkmale der Kunst von Sigmar Polke aufs
beste enthä lt, eine Mischung aus Reflexion und Sinn-
lichkeit.
Das zweite Bild, «Schattenkabinett», ist in Schwarz-
Weiss gehalten und wirkt aufs erste grafisch, erinnert
es doch an einen Scherenschnitt . Bei näherem Hinse-
hen aber sind die Schwarztöne mehrfach abgestuft. Da
ist wieder der semitransparente Malgrund, diesmal aus
schwarzem Tüll, der im Kontrast mit dem darüberge-
malten tiefen Schwarz und Weiss eher bräunlich und
immateriell wie Rauch wirkt. Das Auge verliert schnell
den Halt, und man blick t durch das Gewebe hin dur ch
auf das Bildchassis und die Wand.
Die Silhouette, der klare Schattenriss des sich
beschwingt über das Bild ausbreitenden Hauptmotivs
b ringt Zirkus s timmung ins Spiel. Es ist ein Motiv, das
in zwei andern Bildern der Ausstellung noch in jew eils
stark abgewandelter Art in Erscheinung trat, ursprüng-
lich ein Bl echspielze ug anpr eise ndes Zeitung s inse rat
von 1910. Der Künstler schnitt es aus der Zeitung im
Silhouette nschnitt aus, fotokopierte es anschliessend
und er gänzte das Bild leichthändig mit ein paar Str ich-
gesichtern r echts oben, während er ein zweites Motiv,
eine bew egte Szene mit Figuren, zus ätzlich von unten unten