Full text: Jahresbericht 2005 (2005)

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Schon früh hat dies er Künstler Werke geschaffen, 
die in die Kunstgeschichte des 20. Jah r hunderts ein- 
gegangen sind, Rasterbilder, die auf die Realität der 
Massenmedien verweisen, die Polke aber immer von 
Hand malt – im Gegensatz zu den im Siebdruckverfah- 
ren auf die Leinwan d übertragenen Raster der Pop- 
Art. Die frühen Werke von Lichtenstein und W arhol 
entstehen fast gleichzeitig wie die f rühen Rasterbilder 
von Polke. Doch ist bei Polke in der E ntwicklung seine s 
Œuvr es über die Jahrzehnte eine ganz andere, «euro- 
päische» Aus ri chtung nachvo llziehbar . 
Früh experimentiert Polke mit den Punktemus- 
tern, was er bis heute mit grossem Erfindungsreich- 
tum weitergetrieben hat. Ein im Clichéras te r wieder- 
gegebene s Bild ist zugleich ein Kipp bild. Wie die 
Zeitungsbilder, die wir tagtäglich bloss auf ihren News- 
Gehal t hin wahrne hmen, lässt es sich genau so gut nur 
auf die einzelnen «Pix el», die Punkt eauflö sung, hin 
betrachten . Ein Vexierspiel, das Polke immer wieder in 
sein Werk einfliessen lässt, und das auch in beiden der 
nun in der Samm lung des Kunstha use s zu se henden 
Werken, «Schattenkabinett» und «Levitation», als 
«bildgebendes Verfahren» zur Anw endung kommt. 
Und doch sind sie sehr unterschiedlich in Konzept 
und Bildaufbau. Beide Bilder weisen das Format 300 x 
480 cm auf und sind in Mischtechnik auf Polyester- 
te xtilgew ebe gemalt. 
In «L e vitation» sehen wir eine Gr uppe von Men- 
schen in sehr gr obk örnigem Raster wiedergegeben, 
die erstaunt oder vielleicht entse tzt nach oben schau- 
ten. Einen Kontras t zu dem Schwarz auf dem «gebr o- 
chenen» Weiss des Malgrundes – eben nicht Leinwand, 
so ndern eines jener semitransparenten Gewebe, die 
der Künstler mit ma ttem Lack behandelt hat, bevor er 
es bema lt – bilden die Schüttspuren von roter und 
gelbe r Farbe auf der r echten Seite des Bildes. Eine 
raffinierte Zwe iteilung beherrscht das Bild: Die linke 
Seite scheint dem Figurativen, die r echte der Abs trak- 
tion gewidmet zu sein. Immer sind bei Polke gleich- 
sam en pas sant Anspielungen auf die Kunstgeschichte 
und auf das Wesen der Kunst s elber auszumachen, 
doch immer in überraschend leichthändigem, ge rade- 
zu schelmischem Ton. Das Raffinement liegt in der 
Führung unseres Blicks. Als Betrachte r schaue n wir 
zuers t auf die G ruppe. Der konditionierten Leserich- 
tung in der wes tlichen Welt f olgend, setzt das Auge 
links an, um anschliessend auf die an Feuer, Glut oder 
Blut – aber auch auf die an Action-P ainti ng und Tachis- 
mus – gema hnenden Farbspuren gelenkt zu werden. 
Wir ahnen bald, dass der Gesichtsausdruck der Men- 
schengrup pe ein Spiegelbild unserer Emotionen dar- 
stellt: Schuf der Künstler somit eine Art bildliches Per- 
petuum mobil e, in welchem das Publikum in all seinen 
voraussehbaren Re aktionen Teil von dessen a usgetüf- 
tel ter ges ta ltpsychol ogischer M echanik geworden ist? 
Das Raffinement findet sich auch in der Machart. 
Die feine Netzstruktur des doppellagigen Textils lässt 
die von hinten g e schüttete Farbe aus der Na hsicht sich 
im Stakkato in kleine Linsenformen auflös en. «Levita- 
tion» ist ein kräftiges, vital es Werk, das die charakte- 
ristischen Merkmale der Kunst von Sigmar Polke aufs 
beste enthä lt, eine Mischung aus Reflexion und Sinn- 
lichkeit. 
Das zweite Bild, «Schattenkabinett», ist in Schwarz- 
Weiss gehalten und wirkt aufs erste grafisch, erinnert 
es doch an einen Scherenschnitt . Bei näherem Hinse- 
hen aber sind die Schwarztöne mehrfach abgestuft. Da 
ist wieder der semitransparente Malgrund, diesmal aus 
schwarzem Tüll, der im Kontrast mit dem darüberge- 
malten tiefen Schwarz und Weiss eher bräunlich und 
immateriell wie Rauch wirkt. Das Auge verliert schnell 
den Halt, und man blick t durch das Gewebe hin dur ch 
auf das Bildchassis und die Wand. 
Die Silhouette, der klare Schattenriss des sich 
beschwingt über das Bild ausbreitenden Hauptmotivs 
b ringt Zirkus s timmung ins Spiel. Es ist ein Motiv, das 
in zwei andern Bildern der Ausstellung noch in jew eils 
stark abgewandelter Art in Erscheinung trat, ursprüng- 
lich ein Bl echspielze ug anpr eise ndes Zeitung s inse rat 
von 1910. Der Künstler schnitt es aus der Zeitung im 
Silhouette nschnitt aus, fotokopierte es anschliessend 
und er gänzte das Bild leichthändig mit ein paar Str ich- 
gesichtern r echts oben, während er ein zweites Motiv, 
eine bew egte Szene mit Figuren, zus ätzlich von unten unten
	        
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