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gibt einen Schlüssel zum popkulturellen Kontext an die
Hand. Während Gertschs berühmte Einzel-, Doppel-
und Gruppenporträts aus den frühen Siebzigerjahren,
z.B. «Luciano und Franz», 1973, in der Sammlung
des Kunsthauses, den Lebensstil einer jugendlichen
Bohème fotografisch detailliert und mit einer grossen
Faszination für das Det ail nachzeichnen, erscheint also
das Interesse am Sujet hier eher peripher und wenig
präzis. Eine Werbeaufnahme einer Schlagersängerin
wird reduziert auf die einfachste Chiffre: «attraktive
Frau und schnelles Auto». Dasist alles, was Gertsch
an Aussage stehen lässt, die Vorlage könnte ebenso
gutvoneiner Zigarettenwerbung oder aus einer Motor-
sportzeitschrift stammen.
Insofern können wir hier wohl, was die konzeptu-
elle Seite dieser Malerei angeht, nur unter Vorbehalt
vonPopArtsprechen.GewisswarPopabMitteder
Sechzigerjahre auch in Bern, wo Gertsch lebte und
arbeitete, längst bekannt. Im Frühsommer 1966 hatte
die Kunsthalle Bern zum einen James Rosenquists
monumentalen Fries «F-111» und zum andern die
Philip-Morris-Edition «11 Pop Artists: the New Image»
gezeigt,woder gesamtekanonische Kreis von US-Pop-
Künstlern vertreten war. Aber die schablonenhafte, flä-
chige, geometrische Malform mit scharfen Kanten und
Konturen, emotionslos und rational gesteuert, ohne
individuelle Pinselspuren sowie die sparsamst kalku-
lierte Reduktion der Farben auf ei nige wenige kontras-
tierendeTöne–alldiesweistineineandereRichtung:
Dies sind viel eher die typischen Stilmerkmale jener
Richtung oder Schule, die unter dem Namen «Hard-
Edge (Painting)» von Ende der Fünfzigerjahre bis Ende
der Sechzigerjahre (allerdings in der Regel unter Ver-
zicht auf jede Figuration) international Furore mach-
te (Al Held, Frank Stella, Ellsworth Kelly). Zumindest
ebensosehrwiemitderderPopArtscheintsichhier
Gertsch also mit dieser hartkantigen Farbflächen-
malerei der Sechzigerjahre auseinanderzusetzen. In
gewisser Weise markiert das Gemälde insofern werk-
und kunsthistorisch die Überquerung einer Furt: Sich
aus einer malerischen Tradition befreiend, die via die
späten Collagen von Matisse auf noch frühere Abs-
traktionsmodelle europäischer moderner Malerei
zurückverweist, überquert Gertsch den Strom der Pop
Art gewissermassen nurenpassant,umsichdannab
1969 der hyperrealistischen Umsetzung fotografischer
Vorlagen zuzuwenden. Tobia Bezzola
Literatur:
Samuel Vitali: Gertsch vor Gertsch oder: Der lange
WegaufdenMonteLema.DasFrühwerkvor1969–
eine Bestandesaufnahme, in: Franz Gertsch. Die Ret-
rospektive, Ausst.-Kat. Museum Franz Gertsch/Kunst-
museumBern,2005,s.bes.S.49–54.
Angelika Affentranger-Kirchrath: Franz Gertsch.
DieMagiedesRealen,Bern2004,S.27–30. Ich danke Franz Gertsch für seine Auskünfte.