Full text: Jahresbericht 2009 (2009)

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seiner definitiven Rückkehr an die Seine Anfang 1935 
nimmt er das Modell-Studium wieder auf; der Bruch 
mit dem Breton-Zirkel wird definitiv.5 
Giacometti knüpft zunächst dort an, wo er 1925 
aufgehört hat: bei den kubistisch analysierenden Kon- 
struktionen; verlorene Köpfe führen die Entwicklung 
des «Cube» zum «Tête-crâne» weiter. Die Bildnisse 
Marias von 1934, die ersten Zeichnungen nach dem 
Berufsmodell Rita Gueffier von 193 5,6 Köpfe Diegos 
zeigen verschiedene Stufen der Umformung. Das 
intensive Studium ägyptischer Skulpturen bil det ein 
Gegengewicht zu den auflösenden Tendenzen;7 die 
erste Plastik nach Isabel Delmer (geb. Nicholas, spä- 
tere Lambert), genannt «égyptienne», und die Ausstat- 
tungder«Femmequimarche»von1932miteinem 
Sockel und ihre Weiterentwicklung zur «Femme qui 
marche II», beide von 1936, zeugen von dem Ver- 
such, durch die altägyptischen Inspirationen zu einer 
modernenStilformzufinden.8DochdieNähezuden 
Art-déco-Objekten für Frank ist nur zu offensichtlich: 
Genau diese Verdinglichung der Kunst galt es zu ver- 
meiden. Giacometti wendet sich nun entschlossen der 
Auflösung der sich vor die Erfahrung des lebenden 
Modells drängenden formalen Erinnerungen zu – ein 
Prozess des Verlernens setzt ein.9 
Bleiben in der Skulptur die Resultate problema- 
tisch, ergeben sich im Zeichnen und Malen wichtige 
Fortschritte: Das Auflösen und Umdeuten der plas- 
tischen Gestalt ist in diesen illusionistischen Medi- 
en wesentlich einfacher. Eine entscheidende Eta ppe 
markieren drei Selbstbildnisse, von denen das erste 
sicher 1935, das reifste nachträglich 1937 datiert ist; 
hier entwickelt sich eine diaphane Offenheit auf ein 
Inneres, eine Tiefe,ausder seine Präsenz aufscheint.10 
Auch bei diesen Blättern wirkt das Studium der ägyp- 
tischen Meisterwerke ein ebenso wiebei der nächsten 
Stufe, dem 1937 gemalten Porträt der Mutter, in dem 
der gesuchte phänomenologische Realismus erstmals 
eine gültige Ausformung findet: ein Bild der inneren 
Vorstellung des Gesehenen, in der das bloss Din gli- 
che des Gegenübers durch seine offene Lebendigkeit 
überwunden wird.11 
In der Skulptur ist die inerte Masse viel schwie- 
rigerzuüberwinden–ihreAuflösungineinenurvon 
Licht und Schatten lebende Membran, wie sie Gia- 
cometti im «Tête qui regarde» 1929 realisiert hatte, 
war unter den neuen abbildungshaften Bedingun- 
gen nicht mehr möglich. Möglich aber ist die Ver- 
kleinerung, die Reduktion der Masse im Verhältnis 
zur Aus strahlun g des Lebendigen. Dabei sind drei 
Aspekte zu unt e rscheiden, die in einem k omplizier- 
ten, sich gegenseitig stärkenden Zusammenspiel 
wirken: einem phä nomeno logischen, einem forma- 
len und einem psychologischen. Am einfachsten ist 
die Gröss enreduktion unter dem Ges ic htspunkt der 
Wahrnehmung zu erklären, und da diese Probleme 
für Giacometti nun in den Mitt e lpunkt seiner Suche 
nach «W ahrheit» rücken, wird er in seinen späteren 
Äusserungen vor allem davon sprechen: Die relative 
Grösse eines Gegens tands nimmt im Gesichtsfeld 
mit zuneh mender Distanz rasch stark ab. Er habe 
diesschonalsKnabebeimAbzeichnenvonBirnenim 
Atelier se ines Vaters zwanghaft erfahren. W ährend 
gewöhnliche Dinge bald ins Undeutliche verschwim- 
men, vermag die Erscheinung eines Menschen noch 
über gross e Distanz in seiner Lebendig k eit zu affizie - 
ren – sogar als spezifisches Indiv iduum, lang bevor 
Details erkennbar werden. In einem Brief an André 
Breton beschreibt Giacometti im August 1933 fas zi- 
niert,wieereinejungeFrauinderFernebeialltäg- 
lichen Verrichtungen sah, obwohl ihr Kopf nur einen 
kleinen bräunlichen Fleck in der Landschaft bilde- 
te.12 Berühmt wurde die Episode, wie ihm Is abel in 
der Nacht auf dem Boule vard Saint-Mic he l erschien, 
und die wir hier ein weiteres Mal zitieren müs sen, 
da Giacometti gleich eine ganze Theorie der kleine n 
Skulpturen liefert: «Ich wollte sie so gross machen 
[Giacometti zeigt auf seinen Unterarm]: sie wurde 
nur so [h albe Daumengrösse]. Wieso, verstand ich 
erst später. Nämlich: Ich wo llte diese Frau so wie- 
dergeben, wie ich sie ganz eindr ücklich und als blei- 
bende E rinnerung einma l in einiger Entfernung auf 
der Stras se gesehen hatte. Das war auf dem Boule - vard Saint-Michel, um M i tternacht. Ich sah das vie-
	        
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