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seiner definitiven Rückkehr an die Seine Anfang 1935
nimmt er das Modell-Studium wieder auf; der Bruch
mit dem Breton-Zirkel wird definitiv.5
Giacometti knüpft zunächst dort an, wo er 1925
aufgehört hat: bei den kubistisch analysierenden Kon-
struktionen; verlorene Köpfe führen die Entwicklung
des «Cube» zum «Tête-crâne» weiter. Die Bildnisse
Marias von 1934, die ersten Zeichnungen nach dem
Berufsmodell Rita Gueffier von 193 5,6 Köpfe Diegos
zeigen verschiedene Stufen der Umformung. Das
intensive Studium ägyptischer Skulpturen bil det ein
Gegengewicht zu den auflösenden Tendenzen;7 die
erste Plastik nach Isabel Delmer (geb. Nicholas, spä-
tere Lambert), genannt «égyptienne», und die Ausstat-
tungder«Femmequimarche»von1932miteinem
Sockel und ihre Weiterentwicklung zur «Femme qui
marche II», beide von 1936, zeugen von dem Ver-
such, durch die altägyptischen Inspirationen zu einer
modernenStilformzufinden.8DochdieNähezuden
Art-déco-Objekten für Frank ist nur zu offensichtlich:
Genau diese Verdinglichung der Kunst galt es zu ver-
meiden. Giacometti wendet sich nun entschlossen der
Auflösung der sich vor die Erfahrung des lebenden
Modells drängenden formalen Erinnerungen zu – ein
Prozess des Verlernens setzt ein.9
Bleiben in der Skulptur die Resultate problema-
tisch, ergeben sich im Zeichnen und Malen wichtige
Fortschritte: Das Auflösen und Umdeuten der plas-
tischen Gestalt ist in diesen illusionistischen Medi-
en wesentlich einfacher. Eine entscheidende Eta ppe
markieren drei Selbstbildnisse, von denen das erste
sicher 1935, das reifste nachträglich 1937 datiert ist;
hier entwickelt sich eine diaphane Offenheit auf ein
Inneres, eine Tiefe,ausder seine Präsenz aufscheint.10
Auch bei diesen Blättern wirkt das Studium der ägyp-
tischen Meisterwerke ein ebenso wiebei der nächsten
Stufe, dem 1937 gemalten Porträt der Mutter, in dem
der gesuchte phänomenologische Realismus erstmals
eine gültige Ausformung findet: ein Bild der inneren
Vorstellung des Gesehenen, in der das bloss Din gli-
che des Gegenübers durch seine offene Lebendigkeit
überwunden wird.11
In der Skulptur ist die inerte Masse viel schwie-
rigerzuüberwinden–ihreAuflösungineinenurvon
Licht und Schatten lebende Membran, wie sie Gia-
cometti im «Tête qui regarde» 1929 realisiert hatte,
war unter den neuen abbildungshaften Bedingun-
gen nicht mehr möglich. Möglich aber ist die Ver-
kleinerung, die Reduktion der Masse im Verhältnis
zur Aus strahlun g des Lebendigen. Dabei sind drei
Aspekte zu unt e rscheiden, die in einem k omplizier-
ten, sich gegenseitig stärkenden Zusammenspiel
wirken: einem phä nomeno logischen, einem forma-
len und einem psychologischen. Am einfachsten ist
die Gröss enreduktion unter dem Ges ic htspunkt der
Wahrnehmung zu erklären, und da diese Probleme
für Giacometti nun in den Mitt e lpunkt seiner Suche
nach «W ahrheit» rücken, wird er in seinen späteren
Äusserungen vor allem davon sprechen: Die relative
Grösse eines Gegens tands nimmt im Gesichtsfeld
mit zuneh mender Distanz rasch stark ab. Er habe
diesschonalsKnabebeimAbzeichnenvonBirnenim
Atelier se ines Vaters zwanghaft erfahren. W ährend
gewöhnliche Dinge bald ins Undeutliche verschwim-
men, vermag die Erscheinung eines Menschen noch
über gross e Distanz in seiner Lebendig k eit zu affizie -
ren – sogar als spezifisches Indiv iduum, lang bevor
Details erkennbar werden. In einem Brief an André
Breton beschreibt Giacometti im August 1933 fas zi-
niert,wieereinejungeFrauinderFernebeialltäg-
lichen Verrichtungen sah, obwohl ihr Kopf nur einen
kleinen bräunlichen Fleck in der Landschaft bilde-
te.12 Berühmt wurde die Episode, wie ihm Is abel in
der Nacht auf dem Boule vard Saint-Mic he l erschien,
und die wir hier ein weiteres Mal zitieren müs sen,
da Giacometti gleich eine ganze Theorie der kleine n
Skulpturen liefert: «Ich wollte sie so gross machen
[Giacometti zeigt auf seinen Unterarm]: sie wurde
nur so [h albe Daumengrösse]. Wieso, verstand ich
erst später. Nämlich: Ich wo llte diese Frau so wie-
dergeben, wie ich sie ganz eindr ücklich und als blei-
bende E rinnerung einma l in einiger Entfernung auf
der Stras se gesehen hatte. Das war auf dem Boule - vard Saint-Michel, um M i tternacht. Ich sah das vie-