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grafievonAnnieJoneszuarbeiten,weilsiezweiunter-
schiedliche Kontexte buchstäblich durchquerte: Diese
Abbildung eines Körpers wanderte von der Freak Show
im Zirkus Barnum, wo sie sich gegen Bezahlung als
‹Wunder› oder als ‹verblüffend› präsentierte, in das
medizinische Theater, wo sie im Buch Hirschfelds als
potentieller ‹Patient› gezeigt wurde. Dieser Wandel
vom ‹Wunder› zur Objektivierung in der Medizin mar-
kiert zugleich das Wichtiger-Werden der Moderne und
der Aufklärung.»5
Neben der Inszenierung des uneindeutigen
Geschlechts der bärtigen Dame durch Kleidung und
Pose thematisiert der Film«N.O.Body»dennauchFra-
gen der Wissensproduktion. In einem klassischen Hör-
saalsinddiemöglichen Positionen der Wissensproduk-
tion ja räumlich klar differenziert: die zentrale Position
desProfessors,dergrosseTisch,derdasObjektdes
Interesses vorführt, die Tafel, an der die Erkenntnisse
festgehaltenwerden,unddieZuhörer,dieaufansteigend
angebrachten Sitzen auf diese Szene hin ausgerichtet
sind.In«N.O.Body»werdendieseHierarchien aufgelöst:
DieSitzreihensindleer,undstatt klarer wissenschaftli-
cherErkenntnissegibtdieProfessorinaliasFreakAnnie
JonesnureinmerkwürdigirritierendesLachenvonsich
und inszeniert sich gleichzeitig auf dem grossen Tisch.
DerFilmfragt,was«inderProduktionvonNormalität
und Devianz» geschieht, «wenn das ‹Objekt desWis-
sens› sich auch die Position der Wissensproduzentin
aneignet»6 und zu lachen beginnt, statt ein sprachlich
verfasstes Wissen zu lehren. Der Uneindeutigkeit des
Geschlechts der Protagonistin und Hirschfelds Theorien
entsprechendhältsichauchdasLachen«andenRän-
dern und Grenzen eines gesellschaftlichen Machtappa-
ratesauf,indemesdasausihmAusgeschlosseneund
Tabuisierte wieder einführt»7. Boudry/Lorenz untersu-
chenmit«N.O.Body»also,«wiesichheute‹Normalität›
umarbeiten lässt, wie sich Differenz leben lässt, ohne
beständige Entmächtigung und ohne den Integrations-
angeboten neoliberaler Ökonomie zuzuarbeiten».8
NebendemFilmgehörenauch47Fotografienzur
Installation. Diese zeigen Abbildungen aus Magnus
Hirschfelds «Geschlechtskunde, Bilderteil», inklusi-
Hirschfelds Theorie war sehr umstritten und das
von ihm 1919 gegründete Institut für Sexualwissen-
schaftinBerlin–dasersteseinerArtweltweit–wur-
de 1933 im Zuge der Bücherverbrennung durch die
Nationalsozialisten geschlossen und verwüstet. Doch
vorher, zwischen 1926 und 1930, gab Hirschfeld die
«Geschlechtskunde» heraus, die seine Geschlech-
tertheorie in mehreren Bänden darlegte3. Boudry/
Lorenz griffen für ihre Arbeit auf den Bildband zurück,
der 1930 erschienen war. «Dieses Buch zeigt auf über
800 Seiten ausschliesslich Fotografien und Zeichnun-
genvonMenscheninDrag,vonwelchen,dieinden
Kleidern des anderen Geschlechts ‹passen›/durch-
gehen, von Fetischist/innen und SM-Szenarien, von
verkörperter Geschlechtsuneindeutigkeit und den
dazugehörigen Kleidungsstücken, von Uniformliebe,
gleichgeschlechtlichen Paaren oder auch Tieren, die
als ‹Zwitter› bezeichnet wurden.»4 All diese Bilder ver-
wendete Magnus Hirschfeld als visuelle Belege seiner
Geschlechtertheorie. Denn Fotografie spielte für ihn
hinsichtlich der Kommunikation seiner Theorien und
ihrer Evidenz eine wichtige Rolle. Seine wissenschaft-
lichen Vorträge waren daher gewöhnlich auch von
einer Dia-Präsentation begleitet.
Diese Art der Präsentation nehmen Boudry/
Lorenz im Film «N.O.Body» wieder auf. Das Setting
zeigt einen Hörsaal des 19. Jahrhunderts. Zu Be ginn
desFilmessehenwir,wieeineFrauineinemüppi-
gen Kleid die Tre ppe im Hörsaal hinuntersteigt, um
eine Vorlesung zu halten. Doch das Verwirrende an
derSzenerieistnichtnurdasKleidderFrau,sondern
auch dass sie einen langen Bart trägt. Ganz offe n-
sichtlich ist sie ein Beispiel für das von Hirschfeld
definierte «dritte Geschlecht». Die Dias, die sie zeigt,
stammen denn auch aus Hirschfelds Bildband zur
«Geschlechtskunde», und die Vorlage für die bär tige
Dame selbst ist ebenfalls diesem Buch entnommen.
Es handelt sich um eine Fotografie von Annie Jones,
einer der berühmtesten Bartdamen ihrer Zeit. Sie
lebtezwischen1865und1902indenUSAundwurde
sowohlinAmerikawieauchEuropaals«Freak»zur Schau gestellt. «Wir entschieden uns, mit dieser Foto-