Full text: Jahresbericht 2010 (2010)

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Gegenüber diesem leichtfüssigen Genre, in dem 
freilich Terbrugghen seine malerische Meisterschaft 
voll ausleben konnte, bieten die seltenen Historiensze- 
nen wesentlich komplexere Probleme. Die Mehrzahl 
ist der Passion Christi und den Martyrien von Heiligen 
gewidmet; dazu kommen ein paar alttestamentarische 
Szenen. Auch nach dem Übergang Utrechts zum Pro- 
testantismus und dem Anschluss an die nördlichen, 
von Spanien abgefallenen Provinzen bleibt ein grosser 
Teil der Bevölkerung der ehemaligen Bischofstadt 
katholisch. Terbrugghen selbst scheint freikirchlich 
protestantisch gewesen zu sein; bezeichnenderweise 
malte er vier eindrückliche Evangelisten-Darstellun- 
genfürsichselbst,dieinderFamilieweitervererbt 
undvon den Nachkommen im 18. Jahrhundert in das 
Rathaus Deventer geschenkt wurden. Die «Verkün- 
di gung Mariae» aber ist ein ausgesprochen katholi- 
sches Thema, und man darf mit ziemlicher Sicherheit 
annehmen, dass es eine Auftragsarbeit für eine Pri- 
vatkapelle war, denn der katholische Gottesdienst war 
weiterhin gestattet, nur du rfte er sich nicht öffentlich 
– mit Prozessionen, Geläut, Türm en – manifestieren.3 
So ungewöhnlich das Thema in Terbrugghens Werk 
erscheint,sohateresdochnocheinzweitesMal 
gestaltet, und dieses grosse Gemälde entstand offen- 
sichtlich für die Beginenkirche in Diest, woesauch bis 
vor kurzem verblieb. In seinen lichten, festlichen Far- 
ben und seiner malerischen Pracht zeigt esdieMeis- 
terschaft Terbrugghens im Jahr seines frühen Todes 
auf ihrem Höhepunkt. Die Komposition allerdings ist 
trotz des reichhaltigen Beiwerks wesentlich einfacher: 
Wie üblich schreitet der Engel von linkszuder rech ts 
in Dreiviertel-Ansicht knienden Maria. Terbrugghen 
entwickelte auch hier eine Szene Baburens weiter; den 
Engel übernahm er gleichzeitig kaum verändert in eine 
«Befreiung Petri». Einmal darauf aufmerksam gewor- 
den,siehtman,dassersichbereitsbeimZürcherGab- 
riel mit diesem Vorbild, seinem verschatteten verlore- 
nen Profil und der Armhaltung auseinandersetzt.4 
Das Verhältnis von Baburen und Terbrugghen 
ist faszinierend: Man sieht, wie sich ein offensichtlich 
hoch begabter Maler mit komplexen Kompositionen 
abmüht, schon über dreissig Jahre alt ist und kaum 
vom Fleck kommt, und da kehrt ein junger Kollege 
zurück, ein munterer Geselle und Draufgänger, der 
nachdemMotto«Werwagt,gewinnt»dieThemenmit 
spontaner Erfindungskraft ergreift und knackig direkt 
mit frischen Farben und flottem Pinsel auf die Lein- 
wand setzt und damit sofort eine grosse Nachfrage 
nach diesen neuartigen Produkten erzeugt, die auch 
seinem älteren Freund reichlich genug zu tun gibt, ja 
zu einem gemeinsamen Werkstattbetrieb füh rt. Die- 
ser künstlerische Austausch bewirkt bei beiden eine 
erstaunliche Steigerung in der malerischen Qualität 
der Ausführung, im Pinselwerk, der «Peinture», im 
Schmelz des Inkarnats, im Erfassen des Stofflichen, 
desLichts,imKolorit–essinddiese«Erfindungen»in 
«angewandter Ästhetik», die wesentlich zur Entfaltung 
der holländischen Malerei beitragen, gipfelnd im Werk 
Vermeers. Nun beruhen auf solch glückhaften Kon- 
stellationen, die man ja auch für sich selbst wünscht 
und vielleicht viel aktiver suchen müsste, sicher man- 
che wichtige Errungenschaften gerade in der Malerei, 
man denkt an Giorgione und Tizian, an Michelangelo 
und Raphael, an Picasso und Braque; der besondere 
kunsthistorische Moment des Caravaggismus, in dem 
der unmittelbare Ausdruck des menschlichen Erle- 
bens zur Hauptsache der künstlerischen Suche wird, 
verleitet den Betrachter dazu, aus der Psychologie der 
Figuren auf den Charakter der Maler zu schliessen – 
obzuRechtoderUnrecht,lässtsichnichtsagen,da 
die spärlichen schriftlichen Quellen dazu schweigen.5 
Jedenfalls gehört die eigenwillige psychologische 
Vertiefung des Geschehens zu den besonderen Qua- 
litäten der Historien Terbrugghens. Sein Horizont der 
bildnerischen Tradition umfasst nicht nur den Cara- 
vaggismus und die italienische Hochrenaissance, 
sondern auch die nordische Kunst von der Spätgotik 
bis zum Manierismus – die Ikonographie der Diester 
Verkündigung ist wesentlich von einer Komposition 
Abraham Bloemaerts, vermutlich sein Lehrer, mit be- 
stimmt. Hier findet sich das Motiv des offenen Him- 
mels, des übernatürlichen Lichteinbruchs in einem die irdische Sphäre erfüllenden Gewölk. Und dieses
	        
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