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Gegenüber diesem leichtfüssigen Genre, in dem
freilich Terbrugghen seine malerische Meisterschaft
voll ausleben konnte, bieten die seltenen Historiensze-
nen wesentlich komplexere Probleme. Die Mehrzahl
ist der Passion Christi und den Martyrien von Heiligen
gewidmet; dazu kommen ein paar alttestamentarische
Szenen. Auch nach dem Übergang Utrechts zum Pro-
testantismus und dem Anschluss an die nördlichen,
von Spanien abgefallenen Provinzen bleibt ein grosser
Teil der Bevölkerung der ehemaligen Bischofstadt
katholisch. Terbrugghen selbst scheint freikirchlich
protestantisch gewesen zu sein; bezeichnenderweise
malte er vier eindrückliche Evangelisten-Darstellun-
genfürsichselbst,dieinderFamilieweitervererbt
undvon den Nachkommen im 18. Jahrhundert in das
Rathaus Deventer geschenkt wurden. Die «Verkün-
di gung Mariae» aber ist ein ausgesprochen katholi-
sches Thema, und man darf mit ziemlicher Sicherheit
annehmen, dass es eine Auftragsarbeit für eine Pri-
vatkapelle war, denn der katholische Gottesdienst war
weiterhin gestattet, nur du rfte er sich nicht öffentlich
– mit Prozessionen, Geläut, Türm en – manifestieren.3
So ungewöhnlich das Thema in Terbrugghens Werk
erscheint,sohateresdochnocheinzweitesMal
gestaltet, und dieses grosse Gemälde entstand offen-
sichtlich für die Beginenkirche in Diest, woesauch bis
vor kurzem verblieb. In seinen lichten, festlichen Far-
ben und seiner malerischen Pracht zeigt esdieMeis-
terschaft Terbrugghens im Jahr seines frühen Todes
auf ihrem Höhepunkt. Die Komposition allerdings ist
trotz des reichhaltigen Beiwerks wesentlich einfacher:
Wie üblich schreitet der Engel von linkszuder rech ts
in Dreiviertel-Ansicht knienden Maria. Terbrugghen
entwickelte auch hier eine Szene Baburens weiter; den
Engel übernahm er gleichzeitig kaum verändert in eine
«Befreiung Petri». Einmal darauf aufmerksam gewor-
den,siehtman,dassersichbereitsbeimZürcherGab-
riel mit diesem Vorbild, seinem verschatteten verlore-
nen Profil und der Armhaltung auseinandersetzt.4
Das Verhältnis von Baburen und Terbrugghen
ist faszinierend: Man sieht, wie sich ein offensichtlich
hoch begabter Maler mit komplexen Kompositionen
abmüht, schon über dreissig Jahre alt ist und kaum
vom Fleck kommt, und da kehrt ein junger Kollege
zurück, ein munterer Geselle und Draufgänger, der
nachdemMotto«Werwagt,gewinnt»dieThemenmit
spontaner Erfindungskraft ergreift und knackig direkt
mit frischen Farben und flottem Pinsel auf die Lein-
wand setzt und damit sofort eine grosse Nachfrage
nach diesen neuartigen Produkten erzeugt, die auch
seinem älteren Freund reichlich genug zu tun gibt, ja
zu einem gemeinsamen Werkstattbetrieb füh rt. Die-
ser künstlerische Austausch bewirkt bei beiden eine
erstaunliche Steigerung in der malerischen Qualität
der Ausführung, im Pinselwerk, der «Peinture», im
Schmelz des Inkarnats, im Erfassen des Stofflichen,
desLichts,imKolorit–essinddiese«Erfindungen»in
«angewandter Ästhetik», die wesentlich zur Entfaltung
der holländischen Malerei beitragen, gipfelnd im Werk
Vermeers. Nun beruhen auf solch glückhaften Kon-
stellationen, die man ja auch für sich selbst wünscht
und vielleicht viel aktiver suchen müsste, sicher man-
che wichtige Errungenschaften gerade in der Malerei,
man denkt an Giorgione und Tizian, an Michelangelo
und Raphael, an Picasso und Braque; der besondere
kunsthistorische Moment des Caravaggismus, in dem
der unmittelbare Ausdruck des menschlichen Erle-
bens zur Hauptsache der künstlerischen Suche wird,
verleitet den Betrachter dazu, aus der Psychologie der
Figuren auf den Charakter der Maler zu schliessen –
obzuRechtoderUnrecht,lässtsichnichtsagen,da
die spärlichen schriftlichen Quellen dazu schweigen.5
Jedenfalls gehört die eigenwillige psychologische
Vertiefung des Geschehens zu den besonderen Qua-
litäten der Historien Terbrugghens. Sein Horizont der
bildnerischen Tradition umfasst nicht nur den Cara-
vaggismus und die italienische Hochrenaissance,
sondern auch die nordische Kunst von der Spätgotik
bis zum Manierismus – die Ikonographie der Diester
Verkündigung ist wesentlich von einer Komposition
Abraham Bloemaerts, vermutlich sein Lehrer, mit be-
stimmt. Hier findet sich das Motiv des offenen Him-
mels, des übernatürlichen Lichteinbruchs in einem die irdische Sphäre erfüllenden Gewölk. Und dieses