Full text: Jahresbericht 2010 (2010)

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«Sturm»:zumdeutschenExpressionismusundimgros- 
sen Herbstsalon 1913 zur ganzen Breite der internatio- 
nalenaktuellenStrömungen,vondenFauvesüberden 
Kubismus und Orphismus bis zum Futurismus. Neben 
der künstlerischen Intensität der neuen Ausdrucks- 
formen reizt ihn die Kühnheit, die natürlichen Objekte 
nicht einfach abzubilden, sondern in der Abstraktion zu 
zerlegen, zu zersplittern. Schon zuvor hatteerinZeich- 
nungen und in einem Gemälde versucht, die Rhythmen 
der Bewegungen von Arbeitergruppen im Strassenbau 
zu erfassen.6 Die summarische Gestaltung, letztlich in 
der Tradition von Daumier, zeigt bereits eine erstaun- 
liche Dominanz der Energien der Bildfläche über die 
plastische und räumliche Illusion. 
Die Rückseite des zweiten neu erworbenen 
Gemäldes führt in Motiv und Farbigkeit bereits einen 
Schritt weiter: In den beiden weidenden, von einem 
kosmisch gerundeten Hügel überwölbten Pferden 
setzt sich Richter offensichtlich mit der orphischen 
Kunst Franz Marcs auseinander.7 Die Vorderseite mit 
der «Schlittenfahrt» (Abb. 5) bietet sodann das künst- 
lerisch geglückteste Resultat der analytisch kubis- 
tischen Umsetzung des Räumlichen ins Flächige; 
geometrisch kristallin splittrige Partikel vermögen 
den Tiefensog und die Stimmung des Winterfrosts 
zu evozieren. Das Bedrohliche der letzten Bilder von 
Marc, die das «Stahlgewitter» des ausbrechenden 
Weltkriegs vorwegzunehmen scheinen, die Hektik des 
Futurismus, vor allem das dynamische Raumerleben 
Delaunays fliessen hier zu etwas Eigenem zusammen, 
das sich dem Betrachter in der Dynamik des viel- 
schichtig verstrebten Formgefüges mitteilt. Rhythmus 
und Bewegung erweisen sich bereits hier als zentral 
für die künstlerische Intension.8 
Parallel zu der Erforschung dieser neuen Gestal- 
tungsprinzipien im Räumlich-Landschaftlichen steht 
ihre Anwendung im Figürlich-Plastischen; das beste 
Beispiel bietet das «Cello», eigentlich ein mit seinem 
Instrument zusammen schmelzender Cellist.9 Die 
dynamische Rhythmik der Formen kann hier direkt 
alsdasHin- und Herstreichen des Bogens, als Vib- 
rato des Klanges verstanden werden. Gegenüber der 
«Schlittenfahrt» schliessen sich die einzelnen Form- 
partikel stärker zu geometrischen Zellen zusammen, 
und diese Tendenz sehen wir indem «Selbstbildnis in 
Rot und Blau» von 1916 weiterentwickelt. Inzwischen 
musste Richter im September 1914 an die Ostfront 
einrücken, wurde nach einigen Monaten in Litauen 
schwer verletzt und später in ein Berliner Militärspital 
verlegt. Für Franz Pfemferts sozialistische, gegen den 
Krieg gerichtete Wochenschrift «Die Aktion» beginnt 
er regelmässig Zeichnungen und Linolschnitte, meist 
Portraits, zu liefern; am 25. März 1916 widmet ihm 
Pfemfert eine Sondernummer mit einem poetisch 
kunstkritischen Text von Theodor Däubler, in dem 
dieser seine konsequent moderne, aber von keinem 
Programm eingeengte Suche lobt.10 Und tatsächlich 
erscheint das «Selbstbildnis in Rot und Blau» (Abb. 
4)in seinem strengen Aufbau aus Rechtecken in den 
Primärfarben weniger von dem expressiv kristallinen 
Kubismus als von einer geometrischen Flächenkon- 
struktion bestimmt. Es geht entschieden über das 
Selbstbildnis auf der Sondernummer hinaus, und so 
ist es vermutlich bereits in Zürich unter dem Ein druck 
der WerkeOttovanReesundMarcelJancosentstan- 
den.11Dennam15.September1916triffterhierum 
drei Uhr nachmittags im Café de la Terrasse Ferdinand 
Hardekopf und Albert Ehrenstein, wie sie es genau 
zwei Jahre vorher bei der Abschiedsparty inBerlinvor 
dem Einrücken an die Front abgemacht haben. Alsbald 
wirdermitTzara,Janco,ArpunddemganzenDada- 
Kreis bekannt gemacht. Die erste, vor allem literarisch 
provokative Saison der Bewegung im Cabaret Voltaire 
ist bereits vorbei und er kommt gerade rechtzeitig zur 
Fortsetzung, in der die bildenden Künste die wichtige- 
re Rolle spielen. Die betont anti-dogmatische Haltung 
des Kreises entspricht der Auffassung Richters und 
der Breite seiner Experimentierlust; das «Selbstbildnis 
inRotundBlau»markiertindieserPhasedenExtrem- 
punkt geometrischer Strenge. Eine ähnliche Farbigkeit 
zeigt dasHerbst-Bild,dasinseiner lyrischen Lockerheit 
als Ausdruck des Aufatmens im Frieden der Schweiz 
aufgefasst wird. Das auf den Vorzeichnungen dominie- rende zwitschernde Vögelein ist in der abstrahieren-
	        
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