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«Sturm»:zumdeutschenExpressionismusundimgros-
sen Herbstsalon 1913 zur ganzen Breite der internatio-
nalenaktuellenStrömungen,vondenFauvesüberden
Kubismus und Orphismus bis zum Futurismus. Neben
der künstlerischen Intensität der neuen Ausdrucks-
formen reizt ihn die Kühnheit, die natürlichen Objekte
nicht einfach abzubilden, sondern in der Abstraktion zu
zerlegen, zu zersplittern. Schon zuvor hatteerinZeich-
nungen und in einem Gemälde versucht, die Rhythmen
der Bewegungen von Arbeitergruppen im Strassenbau
zu erfassen.6 Die summarische Gestaltung, letztlich in
der Tradition von Daumier, zeigt bereits eine erstaun-
liche Dominanz der Energien der Bildfläche über die
plastische und räumliche Illusion.
Die Rückseite des zweiten neu erworbenen
Gemäldes führt in Motiv und Farbigkeit bereits einen
Schritt weiter: In den beiden weidenden, von einem
kosmisch gerundeten Hügel überwölbten Pferden
setzt sich Richter offensichtlich mit der orphischen
Kunst Franz Marcs auseinander.7 Die Vorderseite mit
der «Schlittenfahrt» (Abb. 5) bietet sodann das künst-
lerisch geglückteste Resultat der analytisch kubis-
tischen Umsetzung des Räumlichen ins Flächige;
geometrisch kristallin splittrige Partikel vermögen
den Tiefensog und die Stimmung des Winterfrosts
zu evozieren. Das Bedrohliche der letzten Bilder von
Marc, die das «Stahlgewitter» des ausbrechenden
Weltkriegs vorwegzunehmen scheinen, die Hektik des
Futurismus, vor allem das dynamische Raumerleben
Delaunays fliessen hier zu etwas Eigenem zusammen,
das sich dem Betrachter in der Dynamik des viel-
schichtig verstrebten Formgefüges mitteilt. Rhythmus
und Bewegung erweisen sich bereits hier als zentral
für die künstlerische Intension.8
Parallel zu der Erforschung dieser neuen Gestal-
tungsprinzipien im Räumlich-Landschaftlichen steht
ihre Anwendung im Figürlich-Plastischen; das beste
Beispiel bietet das «Cello», eigentlich ein mit seinem
Instrument zusammen schmelzender Cellist.9 Die
dynamische Rhythmik der Formen kann hier direkt
alsdasHin- und Herstreichen des Bogens, als Vib-
rato des Klanges verstanden werden. Gegenüber der
«Schlittenfahrt» schliessen sich die einzelnen Form-
partikel stärker zu geometrischen Zellen zusammen,
und diese Tendenz sehen wir indem «Selbstbildnis in
Rot und Blau» von 1916 weiterentwickelt. Inzwischen
musste Richter im September 1914 an die Ostfront
einrücken, wurde nach einigen Monaten in Litauen
schwer verletzt und später in ein Berliner Militärspital
verlegt. Für Franz Pfemferts sozialistische, gegen den
Krieg gerichtete Wochenschrift «Die Aktion» beginnt
er regelmässig Zeichnungen und Linolschnitte, meist
Portraits, zu liefern; am 25. März 1916 widmet ihm
Pfemfert eine Sondernummer mit einem poetisch
kunstkritischen Text von Theodor Däubler, in dem
dieser seine konsequent moderne, aber von keinem
Programm eingeengte Suche lobt.10 Und tatsächlich
erscheint das «Selbstbildnis in Rot und Blau» (Abb.
4)in seinem strengen Aufbau aus Rechtecken in den
Primärfarben weniger von dem expressiv kristallinen
Kubismus als von einer geometrischen Flächenkon-
struktion bestimmt. Es geht entschieden über das
Selbstbildnis auf der Sondernummer hinaus, und so
ist es vermutlich bereits in Zürich unter dem Ein druck
der WerkeOttovanReesundMarcelJancosentstan-
den.11Dennam15.September1916triffterhierum
drei Uhr nachmittags im Café de la Terrasse Ferdinand
Hardekopf und Albert Ehrenstein, wie sie es genau
zwei Jahre vorher bei der Abschiedsparty inBerlinvor
dem Einrücken an die Front abgemacht haben. Alsbald
wirdermitTzara,Janco,ArpunddemganzenDada-
Kreis bekannt gemacht. Die erste, vor allem literarisch
provokative Saison der Bewegung im Cabaret Voltaire
ist bereits vorbei und er kommt gerade rechtzeitig zur
Fortsetzung, in der die bildenden Künste die wichtige-
re Rolle spielen. Die betont anti-dogmatische Haltung
des Kreises entspricht der Auffassung Richters und
der Breite seiner Experimentierlust; das «Selbstbildnis
inRotundBlau»markiertindieserPhasedenExtrem-
punkt geometrischer Strenge. Eine ähnliche Farbigkeit
zeigt dasHerbst-Bild,dasinseiner lyrischen Lockerheit
als Ausdruck des Aufatmens im Frieden der Schweiz
aufgefasst wird. Das auf den Vorzeichnungen dominie- rende zwitschernde Vögelein ist in der abstrahieren-