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den Umsetzung in einen fauvistischen Farbenteppich
kaummehrzufinden.12 So ist auchim Landschaftsbild
die kubistische Zersplitterung ganz verschwunden und
einem flächigen Gewebe farbiger Formen gewichen.
Eine parallele Verschiebung lässt sich übrigens gleich-
zeitig bei Expressionisten wie Kirchner oder Kokosch-
ka in unterschiedlicher Weise beobachten.
Der «Blaue Mann», das andere 1977 von Fri-
da Richter dem Kunsthaus geschenkte Gemälde,
erscheint durch die prononciert antinaturalistische
Farbe des Gesichtes und die irritierend asymmetrisch
blickenden Augen stärker vom dadaistisch spielerisch
provokativen Geist berührt.13 Obwohl der spanische
GrafPedrosoausdemKreisvonHugoBalldarge-
stelltist,meintmandochdenovalenKopfArpsmitder
dreieckigen Nase zu sehen. Später notierte Richter:
«Offensichtlich muss man die Erscheinung zerstören
umdenGeist,dieIdee,dasinnerePrinzip,dasWesent-
lichezuerfassen.…DasBlattvergessen,umdasOval
zu studieren, die Farbe vergessen, um ihre Empfin-
dung zu erfahren.» Richter ist hier unterwegs zuder
im Sommer oder Herbst 1917 entstandenen Grup pe
seiner «Visionären Portraits», die man wohl als seine
ultimativen Dada-Werke bezeichnen darf und die bis-
her in der Sammlung nicht vertreten waren. Um sie
ri chtig zu verstehen, kann man sich auf die allerdings
wesentlich späteren Aussagen Richters stützen, denn
er ist auch insofern ein paradigmatisch moderner
Künstler, als er seine Produktion und die sie leiten-
den Absichten reich kommentierte. «1917 sprudelte
ich in wenigen Monaten beinahe hundert sogenannte
‹Visionäre Portraits› hervor, drei bis vier am Tag, die
einJahrspäterinder Galerie Wolfsberg in Zürich den
Unwillen der Kritiker erregten.»14 Er erinnert sich,
«dass ich meine ‹Visionären Portraits› 1917 vorzugs-
weiseinderDämmerungzumalenbegann,wenndie
Farben auf der Palette kaum noch zu unterscheiden
waren.Daaber jede Farbe ihren ‹angestammten› Platz
auf derPalettehatte,konntedieHandmitdemPinsel
diezuwählendenFarbenauchimDunkelnfinden.Und
dunklerwurdees…,bisamEndedieFarbfleckennur
noch wie in einer Art Selbst-Hypnose auf die Leinwand
gesetzt wurden, fühlend und spontan tastend, wie sie
sich mir auf-drängten oder zu-fielen, so dass sich das
BildmehrvordeminnerenalsvordemsehendenAuge
vollenden musste.»15 Die Titel der neun im September
1918 gezeigten Bilder bieten in sich schon dadaistische
Kurzpoesie, um nicht zu sagen Haikus der unlösba-
ren Widersprüche: «Höchstes Fieber entschlossenen
Unglaubens», «Arp hinter einer Wolke aufgehend»,
«Dada: Flucht ins Blumenleben», «Kuss in brutaler
Harmonie» usw. Heute lassen sich noch drei iden-
tifizieren: «Ekstase von Verzweiflung unterminiert»,
«Portrait macabre» und «Lokomotivseele»; drei weite-
re – ein Selbstbildnis, ein Portrait Emmy Hennings und
ein«KopfLiesl»–kennt man von Abbildungen, dazu
nundenneuenMannmitHut(Abb.6)–gernwüsste
man, welche Titel ihnen zuzuordnen wären.16
Wichtige Anregungen für diese Produktion dürf-
ten die Ausstellungen in der «Galerie Dada» über der
Confiserie Sprüngli geboten haben, die von März bis
Mai 1917 im Mittelpunkt der Dada-Aktivitäten standen.
Im Wesentlichen waren es zwei von Corray gelieferte
Wanderausstellungen der Berliner «Sturm»-Galerie;
besonderes Gewicht erhielt dabei Kandinsky durch
denVortrag,denHugoBallam7.Aprilüberihnhielt.
Zentral für Richter war die Art des schöpferischen
Prozesses, der durch die Reduktion oder Ausschal-
tung der rationalen Steuerung den «schöpferischen
Zufall» und durch ihn tiefere psychische Schichten
oder im Sinne Jungs gar allgemeinere Zusammenhän-
ge zugänglich machen sollte. «Uns erschien der Zufall
alseinemagischeProzedur,mitdermansichüber
die Barriere der Kausalität, der bewussten Willens-
äusserung hinwegsetzen konnte, mit der das inn ere
Ohr und Auge geschärft wurden, bis neue Gedanken-
und Erlebnisreihen auftauchten. Der Zufall war für uns
jenes ‹Unbewusste›, das Freud schon 1900 entdeckt
hatte.»17 Richter sah in diesem Prinzip den Kern der
ganzen Dada-Bewegung: «DADA versprach die abso-
lute Freiheit. Es hatte den Zufall als letzte Konsequenz
der Spontaneität zum Motto gemacht und als Heilmit-
tel gegen Krie g, Gehorsam, Banalität und Kunst aufge- stellt. Die neue Kunst als Antikunst!»18