Full text: Jahresbericht 2010 (2010)

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DiesesausdemZufalloderausdemUnbewuss- 
ten aufsteigende Land der frei en Schöpfung und der 
Freiheit überhaupt sah Richter in der abstrakten, vom 
Gegenständlichen gänzlich gelösten Kunst. Die spon- 
tanen Gestaltungen Arps sind in diesem Sinn wohl 
nicht nur die künstlerisch intensivsten, sondern auch 
von ihrem Ansatz her die dadaistischsten Kunstwer- 
ke überhaupt. Während dieser über eine vollendete 
Balance von Zufall und bewusster Kontrolle ve rfüg- 
te, war Richter mit den chaotischen, vom Nihilismus 
bedrohten Improvisationen bald nicht mehr zufrie- 
den. Ferruccio Busoni, der damals ebenfalls in Z ürich 
weilte, riet ihm, sich mit dem Kontrapunkt Bachs im 
Klavierbüchlein für Anna Magdalena auseinander- 
zusetzen, und aus der Übertragung dieser polaren 
Ordnungsideen entwickelte Richter aus einfachen 
Elementen in der Art chinesischer Zeichen oder Arps 
Amöben die «Dada-Köpfe»: Etüd en in Tusche auf weis- 
sem Papier über das Gleichgewicht von Positiv- und 
Negativ-Formen, über das Verhältnis gestalthafter 
Fügungen zur Bildfläche. Durch den von Tzara ve rmit- 
telten Kontakt zu Viking Eggeling ergaben sich daraus 
in einem weiteren Schrit t die grafischen Umsetzungen 
kompositorischer Strukturen, die durch den implizi- 
ten zeitlichen Ablauf zur Reihung drängten und dies 
wiederum führte 1921 zum Kinounddenerstenabs- 
trakten Filmen. Damit hatte Richter seine eigentliche 
Berufung und historische Bedeutung erreicht. Dane- 
ben aber liefen die politischen Aktivitäten, die Kari- 
katuren für Pfemferts «Aktion» und Rubiners «Zeit- 
Echo », die «Welt der Ochsen und Schweine», 1918 
dann auch die Mitwirkung in der Münchner Räterepu- 
blik und an sozialistischen und pazifistischen Tre ffen 
bisnachZimmerwald.WiedieseAgitationabermitder 
abstrakten Kunst – damals frei lich noch ein Bürger- 
schreck –, dem Ideal Richters vom freien individuellen 
Künstlertum, das in jedem Menschen schlummere, in 
Einklang gebracht werden könnte, ble ibt bis heute ein 
ungelöstes Problem.19 Christian Klemm 
1 Den kohärentesten Überblic k über Richters Leben und Tätigkeiten 
biete t die Chro nol ogie von Marion von Hofacker in: Hans Richter. 
1888–1976. Dadai st, Filmpionier, Mal er, Theo reti ker (Ausst.-Kat. 
Berlin, Akademie der Künste, Kunsthaus Zürich, Lenbac hha us, 
Münc hen, 1982), im Übrigen dominie ren Richters e igene Schriften 
und die oft leic ht variierten autobiographischen Mitteilungen: Hans 
Richter: DADA – Kunst und Antikunst (Köln 1964; = DuMon t Doku- 
mente); Hans Richter. Einführung Herbert Read. Aut obiographi sch er 
Text des Künstlers (ed. Marc el Joray, Neuenburg 1965, reich illust- 
riert); Hans Richter by Hans Richter (ed. Cleve Gray,NewYork1971, 
illustriert); Hans Rich ter. Opera grafica dal 1902 al 1969 (ed. Olivio 
Galassi, Pollenza 1976, umfangreicher Abbildungsband meist von 
Zeic hnu ngen aus der frühe ren Zeit mit k urzen Kommentaren Rich- 
ters). Neue re Fo rsch ungen in: Hans Richter. Activism, Modernism, 
and the Avant-Garde (ed. St ephen C. Foster, Cambridge, (Ma ss. 1998, 
mit reicher Bibliographi e). 
2 Ursula Perucchi: Zu den Zeic hnu ngen und Bildern von Hans Rich- 
ter (in: Kunsthaus Zürich. Zürc her Kunstgesellschaft. Jahresbericht 
1977, S. 77–81). Die Auswahl umfasst vor allem politisch-kritische 
Blätter aus der Kriegs zeit und Dada-Köpfe von 1918. – Hans Bol liger, 
Guido Magnagu agno, R aimund Meyer: Dada in Züric h (Zü rich 1985; 
= Sammlungsheft 11 Kunsthaus Züri ch) mit einer eingeh enden Dar- 
stellung der Ereignisse von Raimun d Meyer und dem Kata log der 
Bestände, zu Richter in sbes. S. 132–154. 
3S.RichterbyRichter1971(wieAnm.1),S.47.–MargareteMelzer 
war spät er mit dem Scha uspiel er und Journ alis ten Dieter Gütt liiert , 
dem sie die ihr von Richter geschenkten Werke vermachte, der sie 
seinerseits seiner Frau Inge Dambruch -Güt t vererbte ; von ihr wur- 
den sie vom Kunsthaus erworben , begleit et von einer Korrespondenz 
Gütts mit Richter von 1971–1974. – Für die technischen A ngaben s. 
obenS.9.–WirmöchtenhierFrauDambruch-GüttundFrauMarion 
von Hofacker für ihre Hilfe, die zahlreichen Hinweise und das Gut- 
achten sehr dank en. 
4AbbildunginRichter,ed.Foster1998(wieAnm.1),S.21. 
5RichterbyRichter1971(wieAnm.1),S.21.–DieBemerkungRich- 
ters aus seinem Brief an Dieter Gütt vom 13. Dezember 1973. 
6 Kat. Berlin/Zürich 1982 (wie Anm.1),Farbabb.S. 59.Hier,beiRich- 
ter,ed.Joray1965(wieAnm.1)undbei Roberto Sanesi: Hans Richter. 
Anno taz ioni sul lin guaggio di Hans Richter (Pollenza 1978, Text ital ./ 
engl.) findet man mehrere frühe Gemälde abgebildet . 
7Zur Rezeption der Avantgarde und zur malerischen Produktion vor 
Dada vgl. Rich ter by Richter 1971(wieAnm.1), S. 21–26 und Timothy 
O. Bens on: Abstraction, Auto nomy, and Cont radict ion in the Politi- 
cizationoftheArtofHansRichter(in:Richter,ed.Foster1998[wie 
Anm. 1], S. 16–46) , insbes . S. 21–25. 
8Vgl. Anm. 7.Es scheint kein näher verwandtes Gemälde Richters 
erhalten zu sein; an Landschaften sind noch frühe re Bilder des Kurfürstendamms (Sanesi, wie Anm. 6, Abb. S. 42–44) bekannt, ver-
	        
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