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DiesesausdemZufalloderausdemUnbewuss-
ten aufsteigende Land der frei en Schöpfung und der
Freiheit überhaupt sah Richter in der abstrakten, vom
Gegenständlichen gänzlich gelösten Kunst. Die spon-
tanen Gestaltungen Arps sind in diesem Sinn wohl
nicht nur die künstlerisch intensivsten, sondern auch
von ihrem Ansatz her die dadaistischsten Kunstwer-
ke überhaupt. Während dieser über eine vollendete
Balance von Zufall und bewusster Kontrolle ve rfüg-
te, war Richter mit den chaotischen, vom Nihilismus
bedrohten Improvisationen bald nicht mehr zufrie-
den. Ferruccio Busoni, der damals ebenfalls in Z ürich
weilte, riet ihm, sich mit dem Kontrapunkt Bachs im
Klavierbüchlein für Anna Magdalena auseinander-
zusetzen, und aus der Übertragung dieser polaren
Ordnungsideen entwickelte Richter aus einfachen
Elementen in der Art chinesischer Zeichen oder Arps
Amöben die «Dada-Köpfe»: Etüd en in Tusche auf weis-
sem Papier über das Gleichgewicht von Positiv- und
Negativ-Formen, über das Verhältnis gestalthafter
Fügungen zur Bildfläche. Durch den von Tzara ve rmit-
telten Kontakt zu Viking Eggeling ergaben sich daraus
in einem weiteren Schrit t die grafischen Umsetzungen
kompositorischer Strukturen, die durch den implizi-
ten zeitlichen Ablauf zur Reihung drängten und dies
wiederum führte 1921 zum Kinounddenerstenabs-
trakten Filmen. Damit hatte Richter seine eigentliche
Berufung und historische Bedeutung erreicht. Dane-
ben aber liefen die politischen Aktivitäten, die Kari-
katuren für Pfemferts «Aktion» und Rubiners «Zeit-
Echo », die «Welt der Ochsen und Schweine», 1918
dann auch die Mitwirkung in der Münchner Räterepu-
blik und an sozialistischen und pazifistischen Tre ffen
bisnachZimmerwald.WiedieseAgitationabermitder
abstrakten Kunst – damals frei lich noch ein Bürger-
schreck –, dem Ideal Richters vom freien individuellen
Künstlertum, das in jedem Menschen schlummere, in
Einklang gebracht werden könnte, ble ibt bis heute ein
ungelöstes Problem.19 Christian Klemm
1 Den kohärentesten Überblic k über Richters Leben und Tätigkeiten
biete t die Chro nol ogie von Marion von Hofacker in: Hans Richter.
1888–1976. Dadai st, Filmpionier, Mal er, Theo reti ker (Ausst.-Kat.
Berlin, Akademie der Künste, Kunsthaus Zürich, Lenbac hha us,
Münc hen, 1982), im Übrigen dominie ren Richters e igene Schriften
und die oft leic ht variierten autobiographischen Mitteilungen: Hans
Richter: DADA – Kunst und Antikunst (Köln 1964; = DuMon t Doku-
mente); Hans Richter. Einführung Herbert Read. Aut obiographi sch er
Text des Künstlers (ed. Marc el Joray, Neuenburg 1965, reich illust-
riert); Hans Richter by Hans Richter (ed. Cleve Gray,NewYork1971,
illustriert); Hans Rich ter. Opera grafica dal 1902 al 1969 (ed. Olivio
Galassi, Pollenza 1976, umfangreicher Abbildungsband meist von
Zeic hnu ngen aus der frühe ren Zeit mit k urzen Kommentaren Rich-
ters). Neue re Fo rsch ungen in: Hans Richter. Activism, Modernism,
and the Avant-Garde (ed. St ephen C. Foster, Cambridge, (Ma ss. 1998,
mit reicher Bibliographi e).
2 Ursula Perucchi: Zu den Zeic hnu ngen und Bildern von Hans Rich-
ter (in: Kunsthaus Zürich. Zürc her Kunstgesellschaft. Jahresbericht
1977, S. 77–81). Die Auswahl umfasst vor allem politisch-kritische
Blätter aus der Kriegs zeit und Dada-Köpfe von 1918. – Hans Bol liger,
Guido Magnagu agno, R aimund Meyer: Dada in Züric h (Zü rich 1985;
= Sammlungsheft 11 Kunsthaus Züri ch) mit einer eingeh enden Dar-
stellung der Ereignisse von Raimun d Meyer und dem Kata log der
Bestände, zu Richter in sbes. S. 132–154.
3S.RichterbyRichter1971(wieAnm.1),S.47.–MargareteMelzer
war spät er mit dem Scha uspiel er und Journ alis ten Dieter Gütt liiert ,
dem sie die ihr von Richter geschenkten Werke vermachte, der sie
seinerseits seiner Frau Inge Dambruch -Güt t vererbte ; von ihr wur-
den sie vom Kunsthaus erworben , begleit et von einer Korrespondenz
Gütts mit Richter von 1971–1974. – Für die technischen A ngaben s.
obenS.9.–WirmöchtenhierFrauDambruch-GüttundFrauMarion
von Hofacker für ihre Hilfe, die zahlreichen Hinweise und das Gut-
achten sehr dank en.
4AbbildunginRichter,ed.Foster1998(wieAnm.1),S.21.
5RichterbyRichter1971(wieAnm.1),S.21.–DieBemerkungRich-
ters aus seinem Brief an Dieter Gütt vom 13. Dezember 1973.
6 Kat. Berlin/Zürich 1982 (wie Anm.1),Farbabb.S. 59.Hier,beiRich-
ter,ed.Joray1965(wieAnm.1)undbei Roberto Sanesi: Hans Richter.
Anno taz ioni sul lin guaggio di Hans Richter (Pollenza 1978, Text ital ./
engl.) findet man mehrere frühe Gemälde abgebildet .
7Zur Rezeption der Avantgarde und zur malerischen Produktion vor
Dada vgl. Rich ter by Richter 1971(wieAnm.1), S. 21–26 und Timothy
O. Bens on: Abstraction, Auto nomy, and Cont radict ion in the Politi-
cizationoftheArtofHansRichter(in:Richter,ed.Foster1998[wie
Anm. 1], S. 16–46) , insbes . S. 21–25.
8Vgl. Anm. 7.Es scheint kein näher verwandtes Gemälde Richters
erhalten zu sein; an Landschaften sind noch frühe re Bilder des Kurfürstendamms (Sanesi, wie Anm. 6, Abb. S. 42–44) bekannt, ver-