ODILON REDON
VIEUX CHEVALIER, 1896
«Mystischer Ritter, woher kommst du? Welche heilsame
und grausame Tat verhärtet deine reine Seele?» So heisst es in
einem Gedicht aus den 1890er-Jahren, das sich auf das heute
im Musée des Beaux-Arts in Bordeaux befindliche Pastell «Le
Chevalier mystique» (Inv.-Nr. Bx E 1756) bezieht.
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Dieses Pastell
kann als eine Art Vorläufer unserer Lithografie angesehen wer-
den, wobei der Ritter sich in dem Pastell aus Bordeaux noch in
Zwiesprache mit einer Sphinx befindet und damit deutlich stär-
ker als unsere Druckgrafik dem Vorbild Gustave Moreau ver-
pflichtet ist (insbesondere dessen Gemälde «Ödipus und Sphinx»
von 1864 aus dem Metropolitan Museum in New York, Inv.-Nr.
21.134.1). Zwar lässt sich auch in unserem jüngst erworbenen
Druck eine Sphinx entdecken, allerdings ist diese nunmehr weit
in den Hintergrund gerückt, während die Gestalt des Ritters
nahezu den gesamten Vordergrund einnimmt. Aufgrund seiner
langen Haare, dem Bart und seinem Gewand sind die Parallelen
zu Redons «Parsifal» aus dem Pariser Musée d’Orsay (Inv.-Nr.
RF36521, recto) mehr als offensichtlich.
Welche inhaltlichen Verschiebungen haben sich also von der
Zeichnung hin zur Lithografie ereignet? Zunächst fällt auf, dass
sowohl unsere Druckgrafik als auch das Blatt aus Bordeaux die
Hauptfigur jeweils unter der Bezeichnung «Chevalier» (Ritter)
laufen lassen. Hier jedoch enden bereits die Gemeinsamkeiten, da
die Figur in Bordeaux aktiv in einen Dialog eingebunden ist, der
Ritter auf der Lithografie hingegen gänzlich in sich gekehrt zu sein
scheint. Die grossen Fragen über den Sinn des Lebens, so legt sei-
ne exponierte Stellung im Vordergrund der Grafik nahe, muss er
mit sich selbst verhandeln. Dass seine äussere Erscheinung
mit Parsifal korrespondiert, kommt sicher nicht von ungefähr,
lässt sich dieser geheimnisumwobene Mann doch als Kämpfer
innerhalb des ewigen Konflikts zwischen Ideal und Wirklichkeit