Volltext: Kurt Schwitters (20)

KURT SCHf ITTERS 
gibt uns das wieder, was wir lange entbehrten: Geheimnis. Der Grundzug in seinem Schaffen 
scheint mir große Ehrlichkeit zu sein. Er ist ein wahrer Mensch, er folgt treu wie Wenige dem 
Gesetze seiner inneren Notwendigkeit. Er sucht das Unmittelbare, den Geist/' 
Diese Betrachtung Adolf Behnes im Cicerone setze ich voran. Denn weshalb soll ich etwa Kritiken 
abdrucken, die nicht so objektiv und nicht so klug und verständnisvoll sind, wie die Behnes. Denn 
es besteht heute eine unüberbrückbare Kluft zwischen einem großen Teil der Kunstliebhaber mit ihren 
Kritikern und den meisten zeitgemässen Künstlern. Hier will man die Natur schön kopiert haben, 
dort will man neben die Natur ein Gebilde stellen, das so gesetzmäßig ist wie die Natur, das 
selbst Natur ist. Vergleichen Sie dazu das Heft 8/9 von Merz, genannt nasci, welches sich ein= 
gehend und demonstrativ mit diesem Thema beschäftigt. Red. Lissitzky/Schwitters. 
Kunst ist nie Nachahmung der Natur, sondern aus ebenso strengen Gesetzen gewachsen, wie die Natur. 
Ich zeige zur Zeit eine Entwicklungsausstellung meines Werkes, von der ein Teil im Sturm im 
November 1926 gezeigt wurde. Sie wird im März 1927 im Nassauisdhen Kunstverein in Wies= 
baden ansgestellt, wandert dann im Mai zu Schames nach Frankfurt a. M., und im Juli nach 
Bochum, im August in die Ruhmeshalle nach Barmen, im September zur Galerie Dr. Becker in 
Köln, dann weiter und weiter, über Braunschweig nach wohin Sie wollen: Konstantinopel, New= 
York, Shanghai, eben hoffentlich nach allen Plätzen. Aber das ist bisher nur mein Projekt, und 
Sie können durch Ihr Interesse dazu beitragen, daß es zur Wirklichkeit wird. Bis jetzt geht es 
gutwillig nur bis Braunschweig. Liebes Publikum, liebe Kritik, zeigen Sie Interesse. 
Sie werden fragen, wie es kam, daß dieser schöne Traum aller Kunstliebhaber nun endlich in Er= 
füllung ging? Nun, das kam einfach daher, daß ich am 20. 6. 1927 gerade 40 Jahre alt werde. 
Das ist so ein halbes Menschenalter, und man feiert so etwas gern durch Zeigen des halben Lebens^ 
Werkes. Man kann schon etwas sehen, und es ergeben sich so schöne und zahlreiche Ausblicke in 
die Zukunft, eben, es ist ein interessantes und wichtiges Ereignis, Punkt. 
Bei der Gelegenheit möchte ich gleichzeitig für die zahlreichen Glückwünsche, die ich erhalten werde, 
bestens und tiefgerührt danken, da ich bei der großen Menge nicht imstande bin, sie alle persönlich 
zu beantworten Ich stelle hier Bilder und Zeichnungen aus meiner Entwicklung aus, und da möchte 
ich erst einige Worte über diese Entwicklung sagen. Es ist die übliche, die wir ja alle durchmachen, 
von der Naturnachahmung zu den abstrakten Gestaltungen. Aber Sie wollen es im Detail hören. 
Geboren bin ich anno 1887 in Hannover als Sohn von Henriette Schwitters, geborene Beckemeyer 
und Eduard Schwitters. Meine Eltern hatten ein Damenkonfektionsgeschäft in Hannover am Theater^ 
platz. Ich besuchte das Realgymnasium 1 in Hannover bis zum Maturum und habe dann 1 Jahr 
an der Kunstgewerbeschule in Hannover gearbeitet. Dann war ich Schüler der Dresdener Akademie 
von 1909 bis zum Anfang des Krieges, besonders bei Professor Bantzer (Portrait), Geheimrat Kühl 
(Genre), und Professor Hegenbarth (Tiermalerei). Sie können an meinen ersten Arbeiten noch die 
Einflüsse meiner Meister spüren, etwa Kühl in 1 und 4, Hegenbarth in 2 und 3, und heute noch 
in 31. Bantzers Einfluß sehen Sie wieder in 17 vom Jahre 1921. Im Kriege habe ich an allen 
Fronten des Waterlooplatzes in Hannover gekämpft, im Felde war ich nie. Aber nach Absolvierung 
der Schreibstube kam ich als Hilfsdienstpflichtiger auf das Eisenwerk Wülfel, wo ich im nächst^ 
liegenden Beruf als Maschinenzeichner ausgebildet und für Handhebelausrücker für Hillkupplungen 
spezialisiert wurde. Ich habe dann auch 2 Semester Architektur studiert. In der stürmischen Kriegszeit 
machte ich innerlich und äußerlich ohne Meister und fast ohne Zeit zum Schaffen meine Wand= 
lung in der Entwicklung durch vom Abmalen zum Malen. Die ersten Versuche dazu im Malsaal 
Bantzer wurden weiter ausgearbeitet, und so entstanden 1918 die ersten rein abstrakten Gemälde 
in Öl, etwa Nr. 13. Sie finden in meiner Ausstellung die Überleitungen etwa von Hegenbarth 
zu den Abstraktionen in der Reihenfolge 6, 8, 9, 10, 11, 12. Man kann hier deutlich beobachten, 
wie allmählich mehr und mehr die Genauigkeit der Naturnachbildung vernachlässigt wird, zu Gunsten 
einer intensiveren bildhaften Komposition. Denn es ist nicht möglich, beides gleichzeitig intensiv 
zu tun, abzumalen und zu malen. An Stelle der individuellen und speziellen Naturbeobachtung 
tritt jetzt mehr und mehr objektives und allgemeines Studium des Bildes und seiner Gesetze. Anfangs 
wird noch der Versuch gemacht, ganz bestimmte spezielle Stimmung zu malen, etwa in 13 das 
Gefühl der Unendlichkeit. Aber das Ziel ist das Allgemeine, das Ganze. 
In den Bildern der folgenden Jahre wird der Ausdruck immer allgemeiner, und gelangt zum Schluß 
zu dem ganz abstrakten Ausdruck von gelb, rot, blau zu grau und weiß, bei besonderer Bevor= 
zugung von einfachen Flächenverhältnissen und manchmal sogar einer nur senkrecht=wagerechten 
Komposition, Für diese Entwicklung in den Farben und Formen war es an sich gleichgültig, daß 
ich aus rein menschlichen Gründen, sagen wir einmal aus Moral oder allgemeiner Gerechtigkeit, 
außer der Tubenfarbe zum Herstellen von Gemälden jede beliebige Farbe, wie sie auch entstanden 
sein mochte, verwendete. Ich sah nämlich den Grund nicht ein, weshalb man die alten Fahrscheine, 
angespülte Hölzer, Garderobenummern, Drähte und Radteile, Knöpfe und altes Gerümpel der 
Bodenkammern und Müllhaufen nicht ebensogut als Material für Gemälde verwenden sollte, wie 
die von Fabriken hergestellte Farbe. Es war dieses gewissermaßen eine soziale Anschauung, und 
künstlerisch betrachtet ein Privatvergnügen, besonders aber letzte Konsequenz. Weshalb man mir 
eigentlich dieses so übel genommen hat, daß es durch mich Bilder aus abgelegtem Material gibt, 
kann ich nicht begreifen. Aber es ist so. Ich sehe auch nicht den Grund der langen, häufigen und 
oft sehr böswilligen, ja sogar gehässigen Kritiken über meine Bilder und Dichtungen der Jahre 1919 
bis etwa 1923 ein, denn es kann sich doch der Kritiker nicht denken, daß er imstande wäre, die 
Zeit zurückzuschrauben, oder gar mich durch seine Kritik zu beeinflussen. Ich nannte meine neue 
Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es 
entstand beim Merzbilde, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ, auE 
geklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige der KOMMERZ UND PRIVATBANK, zu lesen war.
	        
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