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Dieses Weib habe ich in einem frühem Leben bereits gesehn. In Umbrien, bei Perugia,
oder im Mugello/ Giotto hat ihr den Schritt über Gras abgelauscht. Dann gingen alle seine
Bauern so einfach und leicht aus Selbstverständlichkeit. Hundert Jahre später war sie die
Magd der Judith bei Sandro Botticelli. Unwissend wie heute als russische Bäuerin. Ent
weder sind beide die Gleiche, oder verwandt. Man muß nur ein wenig tief atmend nach-
denken, dann erinnert man sich. Also Verwandtheiten über Weltteile hinaus, durch Jahr
hunderte hindurch! Marc Chagall: welch ein herrlicher Regenbogen durch die Nacht ge
spannt!
Als Mann im Mond können wir Chagall sehn. Er schwebt mit Gießkanne und Stern
augen auf dem Kleid, als solcher, über die Kuppeln orthodoxer Kirchen dahin. Eine ge
träumte Eselin steht da als Wahrzeichen künftig sanfter Zeiten / denn Zwillinge, der erste
Halbmensch und das beste Vieh hängen an der Eselin Eutern. Rußland wird keine Wölfin
haben, die das Stadtgründer-Zwillingspaar säugt. Chagall ist voll von wundervollem
sarmatischen Bauerntum.
Chagall kommt aus Paris. Das Pyramidale der Großhauptstadt sieht er durch das Fen
ster. Der Eiffelturm ist bloß ein Eisenobelysk neben den astralen Riesenkristalltetraedern
an den Seineufem. Nur Chagall kann sie sehn: er ist ein Sonntagskind. Die Werktäglinge
müssen sich mit dem Eiffelturm begnügen. Chagall ist ein Januskopf: er sieht zugleich
Paris und blickt davon weg. Folglich ein Hirn mit zwei Gesichtern. Er bricht sich durch,
ins Gegenwärtige, und hängt ab vom Obergegenwärtigen. Sein Tier schleicht oft auf dem
Fensterbrett umher. Halb Schleichkatze, halb Menschenantlitz. Nachts verkriecht sie sich
zumeist in Chagalls Schädelstube und fängt an behaglichst darin zu schnurren. Dann
schnarcht Chagall für die Anwesenden. Seine silberblaue Bauernmaus schlüpft dabei aus
dem Kopf und knistert im Winkelgerümpel herum. Seine Gemütswürmchen schwirren
glühend aus. Seine Sorgenspinne kennt das Hirngespinst des Tages und klebt nachts darin,
entweder im Fensterrahmen oder imGegitter des Eiffelturms. Bis der Mond zu hoch kommt.
Chagall hat das siamesische Zwillingspaar gemalt. Er versteht sich auf Dopplungen.
Goldne Stanniolsonnen gehn über vierfachen Purpurhorizonten auf. Bäume aus Mond
schein blühen lila Geheimnisse in die Nacht. Sie werden blaue Ruhefrucht tragen. Chagall
hat seine ganz eigne Nacht.
Theodor Däubler