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MITTEILUNGEN
Johannes R. Becher: „An Europa„Verbrüderung“, Gedichte. (Kurt Wolff Verlag).
Motto: aus Hans Blüher: »Die Intellektuellen und die Geistigen«. Der Gegentypus ver
wendet die Idee anders. Und zwar politisdi. Er tritt aus dem Erlebnis des ideelich-Reinen
brüsk heraus und wird Prophet. Er kündet der Welt an, daß sie weder gut noch böse sei,
sondern verbesserungswürdig. Er kündet ihr an: ni<ht Handwerker, Gelehrte, Unter
haltungskünstler und sonstige Intellektuelle haben in der Welt zu herrsdien — von den
Kapitalisten ganz zu schweigen — sondern die Geistigen. Das heißt Die, denen das ur
sprüngliche Erlebnis der Idee noch jeden Tag lebendig ist. Er setzt dem bisherigen Typ
des Politikers seinen eigenen entgegen: seine Politik geht nicht auf mäßige Veränderung
des gerade vorhandenen Staates, sondern auf grundsätzliche Neuschöpfung aus der Idee
des besten Staates aus. Gegenüber dem bürgerlichenLiberalismus setzt er platonischen Radi
kalismus.
»An Europa« und »Verbrüderung« sind Parallelen zu Bechers früheren Bänden »Verfall
und Triumph« <Hyperion-Verlag>. In jenen beiden Bänden handelt es sich um das Indivi
duum Becher. Der Verfall der Seele und des Leibes wird darin gebeichtet, bis das eigene
Wort zur kasteienden Geißel wird, bis im Zustande letzter Erniedrigung aufflaggt der
Triumph: Die Bejahung aller Erscheinung in der Gewißheit ihrer Gottverwandtschaft.
Becher verweilte nicht länger beim Idi-Problem. An dessen Stelle trat das Problem der
Gattung Mensch. Sogleich wieder ergibt sich: Verfall des gegenwärtigen Europas,
Triumph der kommenden Verbrüderung. Kraft der basaltklaren Vorstellung des
utopischen, des liebenden Menschen, <in »Triumph und Verfall« unter höllischem Blutver
lust gerissen aus den Schlacken lässigen Fleisches) unternimmt es Becher, aus den Morästen
der Gegenwart ein verklärtes Europa: Utopien zu kristallisieren. Ihm gelingt — wem vor
ihm? — die Verschweißung nacktester Wirklichkeit mit der Fata morgana seiner Sehnsüchte.
Seine eigene, angefochtene, nie harmonische Leiblichkeit projeziert er in die umgestaltete,
taumelnde Gemeinschaft der Völker Europas: Tempels, darin Verrat, Grauen und Fäulnis
kulminieren! Und wer Verfall und Triumph« mit dem Pathos der Jugend, der Inbrunst des
Mönches, dem Fanatismus des Märtyrers die Erlösung des Ichs gesungen, verkündet
heute: Verbrüderung. Bejahend alles: Sonne, Ehrgeiz, Arbeit, Tuberkulose. Er verdammt
keine, propagiert jede Existenz. Nur die Beziehungen sind ihm des Hasses und der Liebe wert.
Denn Becher ist kein Poet, gebärend ewige Sprach-Kreaturen aus irdischer Liebe, kein
Prediger, werbend für die Erkenntnisse problematischen Geistes. Er ist Verkünder. Probleme
sind für ihn nicht da, um gelöst, sondern nur um bejaht oder verneint zu werden. Seine Intui
tion gibt ihm Hoffnung, nicht Erkenntnis. Seine Pietät gilt nicht sich, nicht den Dingen, dem
Nichts, dem Leid, dem Weibe, der Wahrheit. Sie gilt der Dynamik, dem Geschehen, der
Befruchtung, der Wandlung. Nicht überreden — reizen, erschüttern, foltern will er die Men
schen, so wie sie und alle Erscheinungen ihn.
Phänomen der Empfänglichkeit, reagieren seine Sinne vorurteilslos, unparteiisch, kennen
daher die Begriffe schön und häßlich nicht. Bedrängung bedeutet ihm die Welt. Dennoch:
ausgesprochen männlich von Temperament, wird er nicht passiv, elegisch, betrachtend,
distanziert: Impressionist. Es ist aggressiv. Seine Produktion entspringt der Hefe des