Volltext: Erstes Veilchenheft (21)

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von Raoul Hausmann, wodurch sie ihr stereotypes Lächeln vollkommen 
verloren hat, das Bordell mit einer Dame mit 3 Beinen, gestaltet 
von Hannah Hoech und die große Grotte der Liebe. Die Liebes- 
grotte allein umfaßt ungefähr 1 f 4 , der Unterfläche der Säule; eine 
breite Freitreppe führt zu ihr hinauf, unterhalb steht die Klosettfrau 
des Lebens in einem langen, schmalen Gang, in dem sich auch 
Kamelslosung befindet. Zwei Kinder grüßen uns und treten ins Leben 
hinein; von einer Mutter mit Kind ist infolge von Beschädigung nur 
ein Teil geblieben. Glänzende und zerklüftete Gegenstände charaker- 
isieren die Stimmung. In der Mitte ist das zärtliche Liebespaar: er 
hat den Kopf verloren, sie beide Arme; zwischen den Beinen hält 
er eine riesige Platzpatrone. Der verbogene große Kopf des 
Kindes mit siphylitischen Augen über dem Liebespaar warnt 
eindringlich vor Übereilungen. Es versöhnt aber wieder das kleine 
runde Fläschchen mit meinem Urin, in dem sich Immortellen auf 
gelöst haben. Ich habe hier nur einen geringen Teil des literarischen 
Inhalts der Säule wiedergegeben. Manche Grotten sind auch schon 
unter der augenblicklichen Oberfläche längst verschwunden, wie z. B. 
die Lutherecke. Der literarische Inhalt ist dadaistisch; aber das 
ist nur selbstverständlich, da er aus dem Jahre 1923 stammt, und 
da ich seinerzeit Dadaist war. Da nun aber die Säule schon sieben 
Jahre zu ihrem Aufbau gebraucht hat, hat sich die Form entsprechend 
meiner geistigen Weiterentwicklung, besonders in den Rippen, immer 
strenger entwickelt. Der Gesamteindruck erinnert dann etwa an 
kubistische Gemälde oder an gothische Architektur (kein Bischen!). 
Ich habe diese KdeE ziemlich ausführlich beschrieben, weil es die 
erste Veröffentlichung über sie ist, und weil sie infolge ihrer Viel 
deutigkeit sehr schwer zu verstehen ist. Ich kenne nur 3 Menschen, 
von denen ich annehme, daß sie mich in meiner Säule restlos verstehen 
werden: Herwarth Waiden, Doktor S. Giedion und Hanns Arp.*) Die 
anderen werden mich, fürchte ich, auch selbst mit dieser An 
weisung nicht ganz verstehen, aber ein restloses Verstehen ist ja 
auch bei so ganz außergewöhnlichen Dingen nicht erforderlich. 
Die KdeE ist eben ein typisches Veilchen, das verborgen blüht. 
Vielleicht wird meine KdeE immer im verborgenen bleiben, aber 
ich nicht. Ich weiß, daß ich als Faktor in der Kunstentwicklung 
*) Ich wäre froh, wenn sich noch Andere zu ihr bekennen würden. 
wichtig bin und in allen Zeiten wichtig bleiben werde. Ich sage das 
mit aller Ausdrücklichkeit, damit man nicht nachher sagt: „Der arme 
Mann hat es garnicht gewußt, wie wichtig er war". Nein, dumm 
bin ich nicht und schüchtern bin ich auch nicht. Ich weiß es ganz 
genau, daß für mich und alle anderen wichtigen Persönlichkeiten 
der abstrakten Bewegung die große Zeit einmal kommen wird, in der 
wir eine ganze Generation beeinflussen werden, nur fürchte ich, das 
persönlich nicht mehr mitzuerleben, darum sammle ich, lege Dichtung 
auf Dichtung, Skizze auf Skizze und Bild auf Bild, alles sorgfältig ver 
packt und signiert, an verschiedene Stellen, um der Feuersgefahr 
zu begegnen und so versteckt, daß es der Dieb nicht findet. 
Das ist mein Erbe an die Welt, der ich nicht böse bin, daß sie mich 
noch nicht verstehen kann. 
Was ich hier mit kühl überlegendem Verstände Voraussage, ist in 
Wirklichkeit nichts weiter als eine banale Selbstverständlichkeit, denn 
was wir in unseren Werken zum Ausdruck bringen, ist weder Idiotie 
noch ein subjektives Spielen, sondern der Ausdruck unserer Zeit, 
diktiert durch die Zeit selbst, und die Zeit hat uns freie Künstler, die 
wir am beweglichsten sind, zuerst beeinflußt. Durch uns und neben 
uns beeinflußt sie aber auch die gebundenen Ausdrucksformen, wie 
etwa ganz deutlich die Typographie oder die Architektur. 
Ich möchte durchaus nicht, daß etwa die Typographie oder die 
Architektur als Anwendung der abstrakten Kunst aufgefaßt würden, 
denn das sind sie nicht. Man kann nicht eine freie, zwecklose Ge 
staltung anwenden auf eine Zweckform. Typographie und Archi 
tektur sind Parallellerscheinungen mit der abstrakten Kunst. 
Typographie darf nicht nur aus optischen Gründen gestaltet werden. 
Hinzu kommt, daß die Typographie immer einen Zweck außer sich 
hat, sie will wirken oder orientieren. Und der Zweck der Architektur 
ist, eine Wohnung oder einen anderen zweckbestimmten Raum her 
zustellen. Ich verkenne nicht die Notwendigkeit, das auch zum 
optischen Ausdruck zu bringen, was der Architekt konstruiert, aber 
das erstrebte Ziel ist und bleibt das Bauen von Raum. 
Nun sind bei aller Verschiedenheit in der Absicht formal doch große 
Ähnlichkeiten zwischen der neuen Form in der Architektur und Typo 
graphie einerseits und in der abstrakten Malerei und Plastik anderer-
	        
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