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von Raoul Hausmann, wodurch sie ihr stereotypes Lächeln vollkommen
verloren hat, das Bordell mit einer Dame mit 3 Beinen, gestaltet
von Hannah Hoech und die große Grotte der Liebe. Die Liebes-
grotte allein umfaßt ungefähr 1 f 4 , der Unterfläche der Säule; eine
breite Freitreppe führt zu ihr hinauf, unterhalb steht die Klosettfrau
des Lebens in einem langen, schmalen Gang, in dem sich auch
Kamelslosung befindet. Zwei Kinder grüßen uns und treten ins Leben
hinein; von einer Mutter mit Kind ist infolge von Beschädigung nur
ein Teil geblieben. Glänzende und zerklüftete Gegenstände charaker-
isieren die Stimmung. In der Mitte ist das zärtliche Liebespaar: er
hat den Kopf verloren, sie beide Arme; zwischen den Beinen hält
er eine riesige Platzpatrone. Der verbogene große Kopf des
Kindes mit siphylitischen Augen über dem Liebespaar warnt
eindringlich vor Übereilungen. Es versöhnt aber wieder das kleine
runde Fläschchen mit meinem Urin, in dem sich Immortellen auf
gelöst haben. Ich habe hier nur einen geringen Teil des literarischen
Inhalts der Säule wiedergegeben. Manche Grotten sind auch schon
unter der augenblicklichen Oberfläche längst verschwunden, wie z. B.
die Lutherecke. Der literarische Inhalt ist dadaistisch; aber das
ist nur selbstverständlich, da er aus dem Jahre 1923 stammt, und
da ich seinerzeit Dadaist war. Da nun aber die Säule schon sieben
Jahre zu ihrem Aufbau gebraucht hat, hat sich die Form entsprechend
meiner geistigen Weiterentwicklung, besonders in den Rippen, immer
strenger entwickelt. Der Gesamteindruck erinnert dann etwa an
kubistische Gemälde oder an gothische Architektur (kein Bischen!).
Ich habe diese KdeE ziemlich ausführlich beschrieben, weil es die
erste Veröffentlichung über sie ist, und weil sie infolge ihrer Viel
deutigkeit sehr schwer zu verstehen ist. Ich kenne nur 3 Menschen,
von denen ich annehme, daß sie mich in meiner Säule restlos verstehen
werden: Herwarth Waiden, Doktor S. Giedion und Hanns Arp.*) Die
anderen werden mich, fürchte ich, auch selbst mit dieser An
weisung nicht ganz verstehen, aber ein restloses Verstehen ist ja
auch bei so ganz außergewöhnlichen Dingen nicht erforderlich.
Die KdeE ist eben ein typisches Veilchen, das verborgen blüht.
Vielleicht wird meine KdeE immer im verborgenen bleiben, aber
ich nicht. Ich weiß, daß ich als Faktor in der Kunstentwicklung
*) Ich wäre froh, wenn sich noch Andere zu ihr bekennen würden.
wichtig bin und in allen Zeiten wichtig bleiben werde. Ich sage das
mit aller Ausdrücklichkeit, damit man nicht nachher sagt: „Der arme
Mann hat es garnicht gewußt, wie wichtig er war". Nein, dumm
bin ich nicht und schüchtern bin ich auch nicht. Ich weiß es ganz
genau, daß für mich und alle anderen wichtigen Persönlichkeiten
der abstrakten Bewegung die große Zeit einmal kommen wird, in der
wir eine ganze Generation beeinflussen werden, nur fürchte ich, das
persönlich nicht mehr mitzuerleben, darum sammle ich, lege Dichtung
auf Dichtung, Skizze auf Skizze und Bild auf Bild, alles sorgfältig ver
packt und signiert, an verschiedene Stellen, um der Feuersgefahr
zu begegnen und so versteckt, daß es der Dieb nicht findet.
Das ist mein Erbe an die Welt, der ich nicht böse bin, daß sie mich
noch nicht verstehen kann.
Was ich hier mit kühl überlegendem Verstände Voraussage, ist in
Wirklichkeit nichts weiter als eine banale Selbstverständlichkeit, denn
was wir in unseren Werken zum Ausdruck bringen, ist weder Idiotie
noch ein subjektives Spielen, sondern der Ausdruck unserer Zeit,
diktiert durch die Zeit selbst, und die Zeit hat uns freie Künstler, die
wir am beweglichsten sind, zuerst beeinflußt. Durch uns und neben
uns beeinflußt sie aber auch die gebundenen Ausdrucksformen, wie
etwa ganz deutlich die Typographie oder die Architektur.
Ich möchte durchaus nicht, daß etwa die Typographie oder die
Architektur als Anwendung der abstrakten Kunst aufgefaßt würden,
denn das sind sie nicht. Man kann nicht eine freie, zwecklose Ge
staltung anwenden auf eine Zweckform. Typographie und Archi
tektur sind Parallellerscheinungen mit der abstrakten Kunst.
Typographie darf nicht nur aus optischen Gründen gestaltet werden.
Hinzu kommt, daß die Typographie immer einen Zweck außer sich
hat, sie will wirken oder orientieren. Und der Zweck der Architektur
ist, eine Wohnung oder einen anderen zweckbestimmten Raum her
zustellen. Ich verkenne nicht die Notwendigkeit, das auch zum
optischen Ausdruck zu bringen, was der Architekt konstruiert, aber
das erstrebte Ziel ist und bleibt das Bauen von Raum.
Nun sind bei aller Verschiedenheit in der Absicht formal doch große
Ähnlichkeiten zwischen der neuen Form in der Architektur und Typo
graphie einerseits und in der abstrakten Malerei und Plastik anderer-