Volltext: Erstes Veilchenheft (21)

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seits. Beide Formen sind eben entwickelt aus dem für uns 
typischen Formwillen der Zeit. Noch liebt die Menschheit, die 
immer in veralteten Formen denkt, die Form der Zeit nicht, während 
sich gleichzeitig, aber unbemerkt durch die Allgemeinheit, und nur 
von wenigen begabten Kunsthistorikern erkannt, der neue Stil her 
ausbildet. Später wird er einmal allgemein werden, und dann wird 
man uns alle aus unsern Verstecken herausholen, vielleicht erst dann, 
wenn die Zukunft schon längst andere Bedürfnisse haben wird, denn 
das Schicksal der Menschheit im Allgemeinen ist es zu irren, 
und man soll sie gewähren lassen, denn sie fühlt sich wohl dabei. 
Heute noch gibt es nicht viele Leute, die gern in jenen schmucklosen, 
von innen heraus gestalteten Häusern wohnen, man zieht allgemein 
die alten, überladenen, barocken Häuser vor, weil man auch etwas 
für die Schönheit tun möchte. Erst eine spätere Zeit wird erkennen 
können, daß gerade diese schmucklosen Häuser, wenn sie von einem 
begabten Architekten, etwa Haesler, gebaut sind, nicht nur allen 
Erfordernissen der Bequemlichkeit und der Gesundheitspflege ent 
sprechen, nicht nur technisch die besten Lösungen sind, sondern auch 
optisch die schönsten Formen. Relativ leicht findet die neue Typo 
graphie allgemeineres Verständnis. Zwar liebt man nicht die ein 
facheren Formen, aber man heißt sie gut, wenn sie verbunden sind 
mit einer intensiveren Verdeutlichung des Inhalts, welches der Haupt 
zweck neuer Typographie ist. Allgemein beginnt man sie mehr und 
mehr zu schätzen, weil sie leichter orientiert, besser wirbt, Zeit und 
Geld spart. 
Und nun zurück zu der heutigen Jugend und dem Menschen 
überhaupt. Ich bitte Euch Alle, laßt mich in meiner Verborgenheit 
weiter blühen. Es geht mir dabei ganz gut, und ich strebe nicht 
nach Ruhm und Ehre, oder nach Eurer Anerkennung. Ich bin zu 
frieden, wenn ich in meinem Atelier oder an meinem Schreibtisch 
ungestört und in aller Ruhe, vom Lärm der Straße nicht berührt und 
ohne Nahrungssorgen, weiter arbeiten kann. Dazu verhilft mir aber 
meine Tätigkeit als typographischer Gestalter und Berater bei zahl 
reichen Behörden und Fabriken, wo ich im Jahre mehr als 500 Druck 
sachen bearbeite. Mir kann Keiner und Ihr könnt mir Alle, 
zumal da ich auch glücklich verheiratet bin; und ständig wächst die 
Anerkennung meiner typographischen Tätigkeit. Und allmählich 
kenne ich mich auf dem außerordentlich komplizierten und viel 
seitigen Gebiet des Drückens etwas aus. 
Anders die Kunst, denn erstens kennt sich da keiner aus, denn 
das Gebiet ist noch bedeutend komplizierter, und zweitens fehlt mir 
persönlich die Anerkennung. Es bleibt bei schlechten Kritiken, weil 
sich die Kritiker in ihrem Wesen stets gleich bleiben. Und 
wenn ein junger Kritiker bei meinem eigenen Vortrag schreibt, ich 
wäre einfach unmöglich, so ist mir das vollkommen gleichgültig, 
ebenso gleichgültig, als wenn er schriebe, ich wäre der beste Sprecher 
der Gegenwart, eine Behauptung, die zwar auch nicht ganz stimmt, 
mit der er sich persönlich aber bestimmt weniger blamiert hätte. 
Meine Zeit wird kommen, das weiß ich, und dann werden später 
dieselben Kritiker schreiben: „Wie dumm waren doch früher die 
Menschen, als sie Schwitters nicht erkannten, hingegen wie gescheit 
sind wir, daß wir ihn jetzt erkennen". Ich habe zv/ar nicht die Ab 
sicht, Leute zu beleidigen, die noch garnicht geboren sind, aber ich 
weiß es schon jetzt, daß sie, soweit sie Kritiker sind, genau so harmlos 
sein und genau so wenig erkennen werden, wie ihre augenblicklichen 
Kollegen, denn das ist allgemein menschlich, und dazu kann keiner 
etwas; nur sollen sie sich dann nicht auf spielen. Wenn Ihr 
Menschen der Zukunft aber mir eine besondere Freude machen wollt, 
so versucht es die wichtigen Künstler Eurer Zeit zu erkennen. Es 
ist für Euch wichtiger und für mich eine größere Freude, als wenn 
Ihr mich entdeckt zu einer Zeit, in der man mich schon längst 
entdeckt hat. 
Ihr aber, Ihr politischen Menschen von rechts oder links, oder Ihr 
mittlere Sorte, oder aus welchem blutigen Heerlager des Geistes Ihr 
kommen mögt, wenn Ihr eines Tages mal die Politik recht satt 
habt, oder Euch auch nur für einen Abend von Euren Strapazen 
ausruhen wollt, so kommt zur Kunst, zur reinen unpolitischen 
Kunst, die ohne Tendenz ist, nicht sozial, nicht national, nicht 
zeitlich gebunden, nicht modisch. Sie kann Euch erquicken und 
sie wird es gerne tun. 27. 12. 1930. 
Subskribieren Sie auf das folgende MERZ-HEFT, 22: 
Entwicklung, Preis 3 RM, es erscheint Anfang 1932.
	        
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