Volltext: Nr. 1(1917), Mai (1)

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4 
NEUE JUGEND 
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Neue Jugend 
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Telephon: Tempelhof 988, 988, e»s Lützow 3553, 3553, 3553 
Die Bearbeitung der Propaganden^ 11el erfaßt den individuellen Kern der Waren 
MEHR LIEBEN 
„Was haben wir mit Babel zu thui, 
wir reden mit uns selber, und mit 
uns p rs Leibes Gliedern und denen, die 
da wohnen in den Vorhöfen Gottes, mit 
dene.i so itzt mit uns traurig sind, 
welcher Tiaurigkeit soll in F eude ver 
kehrt werden“. Jakob Böhme. 
M. H. Wo Weltanschauungen, Religionen, Geistesformen ver 
sagen, da hat immer ihr Kompaktes, Offizielles, orthodox Gewor 
denes die Schuld. Also genau genommen etwas, was schon nicht 
mehr mit ihnen identisch ist, was Fälschung, Verrat, Abfall be 
deutet. Doch makellos und unverwirrt lebt irgendwo bei den 
Wenigen, desto härter durch Leid Gestählten, die wahre Gestalt, 
deren unvergänglich Wesentliches für die Augen der zutiefst 
Getreuen um so heller leuchtet. Was die mit dem Staat ver 
schwägerten Falsifikate, unter der Kreuzesfahne zu Unrecht segelnd, 
sündigen, bezeugen mir Angelus Silesius, Jakob Böhme, Dosto 
jewski als Verleugnung des heiligsten Heilandes selbst, was 
Streberei, Vorteilsjagd, Rehabilitationsdrang um jeden Preis, „dank- 
verdienerische Geschäftigkeit“ für das Judentum verbricht, wird 
mir aus einem Buche Martin Bubers „Vom Geist des 
Judentums“ (bei Kurt Wolff, Leipzig) ins Reine gebracht. 
Dieses Buch, das in sechs Stücken — bisweilen geruhig sachwal- 
terisch, oft unverkennbar von herzlicher Ergriffenheit zitternd — 
dem Wertvollsten jüdischer Religion Teilnahme werben will, gibt 
mir Erkenntnisse, die eine schon sehr schwer gewordene Zuneigung 
als dennoch vor jedem Altar meines Herzens zu Recht bestehend 
befestigen. Hauptsächlich aus den drei Abschnitten, die der 
jüdischen Mystik, dem Rabbi Nachman von Bratzlaw und dem 
Leben des Chassidim gewidmet sind, steigen Klänge, die allem 
Gütigen, Echten für ewig blutsnah bleiben. Immer wacht eine 
kleine Schar Versprengter, Verlästerter, Schutzloser vor der Macht 
der „Rechtgläubigen“, die ihnen nichts erspart an öffentlicher und 
maskierter Mißhandlung, und auch des jüdischen Geistes Fackel 
wird von solchen Abseitigen unversehrt gehütet und unversehrt 
an die Jahrtausende weitergegeben. Immer heißt ihr Schmuck 
Schlichtheit und ihr Glück Selbstaufopferung, immer gilt von ihnen 
diese wundervolle Charakterisierung, von der ich ersehnte, daß sie 
eindringlich zur Seele einer in Kompromissen eifrigen Gruppe 
unserer Tage schlüge: „Wie die Propheten Israels, so waren auch 
diese seine späten Söhne keine Reformer, sondern Revolutionäre; 
sie forderten nicht das Bessere, sondern das Unbedingte; sie wollten 
nicht erziehen, sondern erlösen.“ Die Blumen, die unter ihren 
zarten Händen blühen und von Enkel zu Enkel das Leben reicher 
und vollkommener zu machen Sesam sind, welken nie. Weisungen 
auf einen Gipfelweg, die man sich und den andern wiederholt,, 
bis wir wirklich, Körper und Seele, nach ihnen wandeln. Da 
heißt es: „Die ganze Welt ist voll des Streites, jedes Land und 
jede Stadt und jedes Haus. Aber wer in sein Herz aufnimmt die 
Wirklichkeit, daß der Mensch an jedem Tage stirbt — denn er 
muß jeden Tag ein Stück von sich seinem Tode abgeben —, wie 
soll der noch seine Tage mit Streit verbringen können?“ Oder: 
„In jedem Menschen ist Köstliches, das in keinem anderen ist. Daher 
soll man jeden, ehren nach seinem Verborgenen, das nur er hat 
und keiner der Gefährten Wer über einen Menschen das 
Urteil spricht, hat es über sich gesprochen. Der Baalschem sagte 
zu einem Rabbi, der über einen Sündigen eine harte Buße verhängt 
hatte: Du hast noch nie den Sinn der Sünde gefühlt und noch 
nie den Sinn des gebrochenen Herzens.“ Himmlische Demut neigt 
kummervoll das Haupt: „Das Lehren und Erziehen, das er so ver 
herrlicht hatte, schien ihm in solchen Augenblicken wie ein Unrecht, 
fast wie eine Sünde. Denn das Wesen des Dienstes in jedem Ding 
sei doch, daß der Mensch seiner Wahl gelassen werde, daß das 
Ding auf seiner Einsicht bleibe und kein Gebot ihm gegeben sei,, 
und ihm nicht befohlen werde, so zu tun, sondern daß er tue nach 
seiner Wahl. Auch schien es ihm da, daß er wenig gewirkt hätte, 
und er empfand, wie schwer es sei, einen Menschen frei zu machen.“ 
Ueber dem Allen und in dem Allen leibhaftig gewärtig, Atem, 
Gewißheit, Quintessenz: „Eines der chassidischen Grundworte ist 
dieses: Mehr lieben.“ 
Täglich 10-7 Uhr (Sonntags geschlossen) 
ÖFFENTLICHES 
INTERESSIERE^! 
FESTHALTEN! 
ZUPACREN! 
llilU!l!ii!UIIUl!lllllliUliili!!j!l!lii!!l!lllll!!!l!lli!lll!lll!!!! 
IBI!,, 1 
. 
Hpollo-Varietä-Tl)eater. 
Cüelda Braafz, Sport-Äkt mit Stepptanz. 
Fritz Steidl, Humorist. 
Mau und Älfred Ree, Tanz^Parodien, dann die 
5 Veras, eine ausserordentliche Drahtseiltruppe 
(Ragtimetanz auf dem Seil!), 
als Einlage ein interessanter Prinz-Fjeinrich-Film, 
abermals Parodisten Pepi und Gusti Gantzer in 
ihrer Szene „Im ßutladen“, zwischendurch die 
amüsante 10 Minuten - Revue (wir Mädels, wir 
Mädels aus dem COesten, wir halten die Männer 
nur zum besten . . . und so . . .) 
Ä* und UI. Äsra. Die phänomenalen Billardkünstler, 
neben den 5 Veras, durchaus beste Leistung des 
Äbends. 
Den Schluss bilden die Markgraf u. Rovellls als 
Musik-Phantasten. 
(Christliche Wissenschaft) 
32, Dessauerstrasse Berlin 
B8S588888S8888SS83SSS^ 
Wintergarten 
Das Programm ist überaus geschickt zusammen 
gestellt. Die sid) bekämpfeneen Grundrichtungen im 
Variete zwischen Massenbezwingung und Kulturfaxerei 
einschließlich besd)läfernder Weinkabinen kommen glän 
zend heraus. Das letztere liefert hauptsächlich die 
Rudolf Nelson-Gesellschaft, etwas um die Zensur balan- 
zierende Käthe Erlholz-Nelson, ganz Weinstube, die 
alte Berliner Spieluhr (Erna Rlberti-Urude Dusedann) 
Grude Groll und Curt Fuß, berühmtes Tanzpaar, Fuß 
als gelehriger Schüler amerikanischer Exentriks- Dahin 
gehören noch der 3auberkiinstler Paul Scheldon, Fritzi 
(Geiser, Jodlerin (?) und Sylvia Fjerzig in ihren Ganz 
schöpfungen (??). 
Äm anderen Ufer: 3 Ciucinnatis, sachgemäße Jong 
leure als Eröffnungsnummer, die 2 3^ias, Trapezakt, 
Äda und Ernst Lanos, Exentriks, denen noch einige 
zeitfüllende Ideen fehlen, Riblo „mit seinem Wunder- 
hund“, das Raimund-Grio (vielleicht als „musikalischer 
Akt“ das schwächste Programm (die Riesenposaune 
kommt als Groteskwirkung zu spät). Geradezu klassisch 
die 4 Claires (Reckturner). Das Kostüm des Komikers 
wirkt fabelhaft, die Leistungen der Truppe sind außer 
ordentlich. 
Die sehr wache Direktion mußte nach Nelson ihre 
FJauptnummer setzen: Die Paetzold-Gruppe, komische 
Radfahrer, hervorragend — das wahre ursprüngliche 
Variete schlägt alle Richtungen. Än Komik, Ideen 
reichtum an an erster Stelle, das Rad aus Militärstiefeln 
wie ein Rekord. Die Darstellung, die nur vorüber- 
busdjt, bleibt im FJirn. (Das Publikum erholt sich zum 
Variete). 
Theatrum germanicum clausum. 
Unser zwanghafter Existenzbezirk trägt das Zeichen der Ab- 
gesperrtheit, der Isolierung, des Erstarrens. Der gleiche Geruch 
der Unfruchtbarkeit weht aus Gedrucktem und aus dem Gestus 
des nur noch automatisch Getanen. Wo das Dasein so zum um 
schränkten Theater sank, könnte das Theater zur unbändigen Leb 
haftigkeit des restlos sein Ich manifestierenden Daseins wachsen. 
Ueber Brücken, vom Bestand des Bewährten zum Frühling des 
Aufbruchs geschlagen, könnte die Fülle der Innerlichkeit, die immer 
irgendwo vorhanden ist, — auch jetzt —, heraufsteigen. Stampft 
etwas unterm Boden? 
Ibsens Borkmann hält verbissnen Gerichtstag — hält er ihn 
durch? Erschüttert noch etwas aus seiner Litanei den Teil in uns, 
der der Erschütterung bedarf zur Wiedergeburt? Was erschüttert, 
sind die Inkarnationen durchbluteter Menschlichkeit, die mit seinen 
Worten ihre eigene Bloßstellung und Auferstehung erkämpft. Und 
manchmal noch bleibt eine Handbreit Heiliges Land im himmlischen 
Lichtkreis: zwei Abgewirtschaftete sich zerkrehlend am siechen 
Versuch einer letzten Selbst-Bestätiguug durch kitzliche Kameraden- 
Spiegelfechterei; Jugend, die sich in dem rosenroten Irrtum der 
unzulänglichen Schicksals-Abenteuerlichkeit verschwendet; und 
Hingabe wie Haß letzten Endes ratlos vor dem einmal gespürten 
Blicke des Allmächtigen, der den brennenden Flecken jeder Brust 
entblößt. Aber das fühlt sich heute im Nu mit und bedarf nicht 
so vieler Requisiten, den leisesten Pulsgang der zitternden Medien 
hören zu lassen. Was vor einem Jahrzehnt als knapp gerühmt 
werden konnte, bedeutet bereits dreifache Unterstreichung und 
grundlos verschärften Kriegszustand. Auch der Schauspieler 
Wegner ermattete eckenweis vor dem Zuviel des Wortes und ließ 
das Wort für Strecken rollen, bis er es mit ausbalancierter Festigung 
wieder an sich riß. Pallenberg: wundersame Demut eines maus 
grau-nordischen Schlucks, und der Lehmann ohne jeden Hochmut 
vom Grunde der eigenen Sehnsucht herauf geholte Mütterlichkeit 
(den Begriff in seinem streng metropsychischen Sinne genommen) 
besternten den Abend, den Rosa Bertens mit dem Blitzstrahl ihrer 
pathetischen Inbrunst durchzuckte. 
Vor ein härteres Tribunal bindet Strindberg. Seine 
Toten sind nicht einbalsamiert; ihr Fleisch zerfällt vor unseren 
Augen und ihre entkernten Skelette weisen die peinlichsten Ver- 
häkelungen auf. Dann, wenn der Engel des Herrn sie beruft, geht 
durchs zermorschte Gebein feines Flötenklingen der ewigen Um- 
armtheit, das allzulange in ihnen verschlossen lag, vom leidvollen 
Zynismus der Existenz-Angst abgeleugnet. Irene Triesch, als die 
Furia Dolorosa, war ein Gipfel jener Schauspielkunst, die vom 
Zentrum der eigenen Lebensnot oder Lebenserhöhung aus die 
Stufen zum nachbarlichen Stimmungstor gräbt. Verlassen hing 
ihr Leib am Kreuze, und aus ihrem gekrümmten Munde flutete 
Haß, der sich mit Tränen sättigte. Hartau gehörte der neuen 
Epoche an, die Mimisches zum endgültigen Symbol des umfassen 
den Triebes werden läßt und den geschlossenen Kampf einer 
expulsiv überwältigenden Aktion meistert. Marionette in der 
Gottheit Hand, flocht er sich dem mystischen Puppenspiel mit 
fanatischer Wollust ein. 
Im Formalen flunkert W e d e k i n d um ein Haar nahe dem 
neuen Wollen. Die letzte Revision seines Prozesses ergibt, wie 
sehr seines Dialoges Ticken schon Tempo unseres eigenen war. 
Der Schauspieler Wedekind bringt dem Theatralischen die Steige 
rung zum Mythos, peitscht unser aller Haut, wenn zischende 
Schläge die eigene aufstacheln, und läßt auf improvisierter Szene 
Eros mit Psyche bedornte Schächer zeugen. Doch die vielge 
rühmte Orska zirkelt Elementares zum eitlen Raffinement mondäner 
Koketterie, Schigolch, Rodrigo, Rahmen und Rhythmus der Auf 
führung schlossen sich allein der gladiatorischen Vorturnerschaft 
Wedekinds an. 
Aus der dreimaligen Suche nach dem Gesichte neuen Theaters 
schält sich ein dreimaliger Cancan um den suggestiven Fetisch. 
Mit Würde gebockt, mit glühenden Kohlen abgerackert, sein Saho- 
mortale in Delinquenten-Baue zu einem Rekord zwingend. Aber 
wie ist das „neue Drama“ bestellt? 
Das neue Drama großen, menschlichen Formates muß — wie 
das alte, das diesen höchsten Wert behält — aus dem Blute der 
Menschen geboren sein. Kein Ziel unwesentlicher Objekte, sondern 
der schmerzhafteste, gefühlte Ringkampf des Ichs, jene unaufhör 
liche Auseinandersetzung um Sein oder Nichtsein, im Innersten 
des Herzens, die eben „das Leben“ i s t. Die Kreatur, am Rande 
des Abgrundes angelangt, der die Umwelt irdischen Nachbar- 
wollens vom Flammenbogen zu Gott empor scheidet, zerbricht sich, 
und wieder einmal ist das Wunder vollbracht, daß über der 
unwiderruflichen Aufopferung die schreiende Kluft des Forums 
sich schliesst. 
Unbedingtheit des Sakramentalen hat Schickeies Dich 
tung. Die Welten, die gegeneinander wogen, machen die letzte 
Zuflucht eines Kreuzträgers, seine organische Märtyrer-Geboren- 
heit, zum Kampfgefilde. Und die Liebe beharrt, wo sie im Anfang 
war, stirbt eher mit dem totgeweihten Ideal, als daß sie sich an 
das momentan triumphierende Widerspiel verrät, leidet eher Selbst 
auflösung ins Ewige, als Verwandlung zum Liebling einer (wenn 
schon — es kann ja sein — hundertjährigen) Zärtlichkeit. Die 
Heilands-Aufgabe des Blutes und des Hirnes wird so ernst ge 
nommen, daß Lockung und Drohung, Schuld und Scham, Zu 
neigung und Preisgabe schließlich ganz ohnmächtig vom Fuße 
des Scheiterhaufens zu Asche zerfallen, den der Stigmatisierte — 
schon weltenfern — schwindelfreien, doch nicht hüpfenden Schrittes 
besteigt. Die melodische Strömung, die unvergänglich hinblühende 
Musik des Gleichnisspieles kam in der Aufführung nicht heraus. 
Des Dichters Absichten wurden in manchen Punkten zum Gegenteil 
verkehrt, die Gallier Karrikaturen, die Anmutigkeiten des jenseitigen 
Ufers unterschlagen. Hinter der Szene sang Offenbach, auf der 
Szene oft beinahe der Trompeter von Säckingen. Die Frau, Madama 
im Ringe feuriger Zungen, wurde von Leonore Elm mit so schlichter 
Innigkeit beschenkt, daß an der gebenedeiten Echtheit solcher 
Durchleuchtung das Talmiglitzern modegefragter Kulissenpuppen 
zur kläglichsten Erinnerung verblich. Gustav Rodegg hatte viel: 
hatte Natürlichkeit — —; Grenzenlosigkeit wäre mehr gewesen. 
Lupu Pick ergriff stückweise, Eva Speiers Lachen war aus diesem 
Lande, Ernst Pittschau besass die Umrisse des Wirklichen. 
Die Berliner Kritik, der bei Ibsen Seßhaftigkeit in mittleren 
Temperaturen nicht schwer fiel, vor Strindberg der Atem ausging, 
mit Wedekind Anlaß zur Rehabilitierung geboten war, machte vor 
Schickele aus schlechtem Gewissen Harakiri. Requiescat in pace! 
Nämlich: Die gemeinste Sünde wider den Geist ist Trägheit! 
Max Herrmann. 
&CHIUFT DES CEISfESi 
Selbst bis in die Niederschriften begrifflicher Art, wo es 
für den Autor leichter ist, subjektiv sich außerhalb zu halten, denn 
in einem Gedichte oder in einer Erzählung, bis in Aufsätze, bis 
in Kunstbesprechungen hinein, sage ich, drängt sich dem Leser 
zumeist als erster und hauptsächlicher Eindruck nicht so sehr der 
Inhalt und die reine Mitteilung der Worte auf, als die Wesenart 
und die Person dessen, von dem das Gedruckte abstammt. Es 
gibt zum Beispiel ein Buch von Maurice Barres, das über den 
Greco handelt; dies die Versicherung auf dem Umschläge. In 
Wahrheit handelt die Arbeit — sicher eine geschmackvolle und 
rassige Arbeit — nicht über den Greco, sondern ist ein Selbst 
befund über Maurice Barrfcs; der Greco steht dahinter, als Zufall 
und Nebenbelang. Er, Barres, verzeichnet seine Gefühlserglühun 
gen, er, Barras, führt seine Beobachtungsgabe vor, stellt Vergleiche 
an, lehnt ab, stimmt zu, entwickelt, prüft, zieht Schlußergebnisse. 
Ganz verdeutlicht wird seine Person, Entblößt liegen die Denk 
angewohnheiten desselben, ihre Urteilszusammenhänge, ihr fest 
bestimmtes Verhalten von Zuneigung und Abkehr. Wer das Greco- 
Buch liest, hat eine neue Bekanntschaft geschlossen, die Bekannt 
schaft mit dem Schriftsteller Maurice Barrfcs. 
Ein Gegenbeispiel zu dieser den Autor photographierenden 
Prosa ist das kürzlich erschienene Buch Theodor Däublers „Der 
neue Standpunkt“, auf das hinzuweisen hier nicht die Absicht ist, 
sondern das ganz so beliebig herausgegriffen wird als die Greco- 
ach nein! die Barres-Studie von Maurice B. In dem Buche Däub 
lers stehen in bunter Reihe Würdigungen neuer Maler und Bild 
hauer; mit „Munch“ und „Barlach“, „Marc“ und „Picasso“ etc. 
sind die einzelnen Kapitel überschrieben. 
Mag sein, daß Däubler ein interessanter Mensch ist: Aus dem 
Buch heraus wirkt als interessant nur der Stoff und die Aussage 
form. Es wirkt mit einer großen und reinen Nachdrücklichkeit. 
Die Frage, die sich ansonst so pünktlich stellt nach dem Lebensalter, 
dem Bildungsgrade, der Erfahrungsweite des Schriftstellers, eine 
Frage, die ganz unbewußt im Anblick der Sätze und der Einfälle 
geweckt und beantwortet wird und mit Dingen uns zu beschäf 
tigen heißt, die menschlich zweiten Ranges, der Sache nicht förd.er- 
sind — diese Frage schweigt sich hier aus. Darum, weil Däubler, 
gleichgültig ob aus Absicht oder Naturanlage, alles aufgeboten hat, 
die Spur zu ihm ringsum auszulöschen. Wir treffen auf niemanden 
mit den und den gut gekannten Denkwiederholungen, auf keinen 
endgültigen Umriß und Gestus, auf nichts von einem stehen 
gebliebenen Ich. Immer sind der Stoff und dieses Ich ineinander 
geflammt, verbrannt und die Asche ward in den Wind gestreut. 
Uns zurück tönt Gedankenschall und reiner Geist. 
Nachdem die Anzahl der Gesichter, denen man sich anzu 
freunden hat, schon im täglichen Leben zureicht und fortwährend 
neue Bekanntschaften zu schließen mehr verwirrt als lohnt, sollten 
die Bücher und jederlei Kunstwerk ganz fremd und namenlos sein, 
und den Betrachtenden müßte nicht zugemutet werden, daß ein 
einzelner jemand, im Spiegel seines Werks, ihnen seine angeborenen 
Stellungen, Blicke, Tonfälle, Händedrücke Vormacht. Wenn Gott 
fried Keller ein Erdenbürger mit buntverschlungener Kindheit, mit 
krausen Ansichten, merkwürdigen Gaben, Plänen, Schicksalsfällen 
gewesen ist, so teilte er dieses Besondere mit Tausenden vor und 
nach ihm. Dafür den Nachweis zu erbringen, hat er seine Bücher 
geschrieben. Die Wichtigkeit! Hier trägt Seite um Seite die 
Gesichtszüge immer wieder Gottfried Kellers, des Züricher Stadt 
schreibers; umständlich und zeitraubend modelliert sich Mund, 
Auge, Stirn und das Innere hinter der Stirn. So daß Philologen, 
wenn sie bezeichnen möchten, was Kellers Prosa schön oder eigen 
tümlich macht, sie stets von dem Bleibenden, dem Stil unversehens 
auf den Menschen übergleiten müssen, auf Natur, Wuchsart, Männ 
lichkeit Gottfried Kellers. 
Der Stil gibt dem Künstler die Möglichkeit, schon hienieden 
die Erlösung durch eigene Inbrunst vollziehen und über sich hin 
weg in den Raum des Zeit- und Figurlosen dringen zu können. 
Die große Qual und Wonne G. Flauberts war eben dies, daß er 
seinem privaten Ich so grimmig zusetzte, bis es verging und Dich 
tungen dastanden, die allein mit dem Künstlerischen in sich aus- 
kommen und wirken. 
Weil Werke so unbedingten Wesens (also Schriften Flauberts, 
Heinrich Manns, Theodor Däublers) der psychologischen Wissens 
lust keine, aber auch gar keine Handhabe bieten, pflegt gegen sie 
der Vorwurf sich zu erheben, sie seien „unmenschlich“. Der 
Vorwurf trifft Richtiges. Von menschlichen Beziehungen zu ihrem 
Autor, vom Klange privater Erfahrung, von offenen Ich-Einge- 
ständnissen sind diese Bücher gründlich gereinigt. Notwendig 
müssen sie den unergriffen lassen, der sich aus ihnen von Mensch 
zu Mensch angesprochen und zu Frohsinn oder süßem Leid, zu 
Lachen oder Weinen, zu Trost oder Ansporn gestimmt sehen 
möchte, kurzum der mit der üblichen Verwechslung Bücher für 
eine Gelegenheit nimmt, hier Stunden des Anschlusses, der Ge 
selligkeit, des verwandtschaftlichen Verstehens zu verbringen. So 
wenig Teilnahme für den Menschen in den Dingen der Natur, in 
Tieren, Gewächsen, Wasser und Wind ist, so wenig in den reinen 
Kunstschöpfungen. Darum sind sie unmenschlich. 
Aber alle Kraft und Grenzenlosigkeit des Geistes ist in ihnen, 
des Geistes Flutung, sein Wunder, sein ewiger Zeugungstumult. 
In ihnen dichtet ein Menschsein ohne Zeit und Eigenperson; der 
vielfache Wille vieler fremdbrüderlicher Herzen vereinigt sich in 
ihnen; Gedanken aus allen Reichen des Todes und des Lebens 
fließen herbei, bilden mit, und die Schöpfung wird nie stille, sie 
bebt für immer an der eigenen Daseinsfülle, die gegen ihre Form 
brandet. 
Unsozial im Grade des Herkömmlichen, ist solche Kunst 
tätiger, herrischer, gewaltsamer denn alles Werk, darein ein Autor 
die Zeugnisse des eigenen Temperamentes unmittelbar verbucht 
hat. Aber was vor sich geht, sind rein geistige Erschütterungen 
oder Beunruhigungen. Der dräuende Wille, der solchen Büchern, 
Statuen, Malereien entströmt und aus ihnen sich auf die Seele des 
Aufnehmenden wirft, trachtet an ihm die höhere, die ewige Person 
zu gewinnen, sie zu bereichern, zu lockern und vom Boden zu 
heben. Schönheit teilt sich mit als unfaßbare Tat. 
Friedrich Markus Huebner, 
Der 
Berliner Theater-Jacob. 
(Man hat sich vorgesetzt, den Geschmack zu reinigen. Man fördert die 
Kunst, man hindert die Unkunst. Man hofft von dem Sieg der Kunst, noch 
immer eine Veredelung des Menschengeschlechts, das dergleichen wahrh ftig 
zebrauchen kann. Aber, ach! . . . Nach jeder neuen Nummer, seit sech 
gehn Wochen, ein neuer Anwurf. S. J., Schaubühne XIII. Jahrg. Nr. 10.) 
Jacobsohn serviert einen „Fall“! Es war höchste Zeit, dass 
in seiner Stadtküche, der Schaubühne (ihr erkennt sie am 
verstaubtem Umschläge!) ein Braten geschmort wurde. Was 
reicht man sonst dem nüchternen, deutschen Magen der viel- 
tausend Kunsttrachtenden und wahrheitsschmachtenden Kultur 
kämpfer (und wären es nur Theaterkulturhungernden!) zum 
goutieren. Es gilt die Vereinsfahne edler Kunstbestrebung 
hoch (makelrein!!) zu halten, deshalb muss man eine Frau be 
werfen. So tut Jacobsohn (denn es geht um die Kunst!) Er geht 
nicht gegen die Theaterbesitzer restlos vor, die streift er nur so 
mit) sondern er stürzt sich besessen auf die unwissende Frau. 
Sie ist die Ausführende (?), die „Zugkraft“, sichtbar! („das schv/arze 
Hexlein am Werk“) folglich: sie biosstellen, demütigen, demons- 
tieren! Wer ist sie? Unwesentliche Fr geü! Wer bist du? 
Wer bin ich!!! Sie ist die Schauspielerin der .... des 
desPublikums. Immer des Publikums!! Das Publikum ohr 
feigen, immer entohrfeigen, mich solange ich derartige Zusü’inde 
mög ich mache, dies ist: schaffe ich nicht die Unmöglichkeit dem 
selben. Warum zwingen wir das Spiel nicht um, ab! 
Vom Auditorium aus wird dirigiert. 
Und es gibt kein Abladen, keine Abschiebung aut v^iüte. 
Es gibt keine Opfer!! Aber so kommen die Grune-Ge. ixen 
wäldler um ihr beseligtes Wiederkauen. Dann ist » < Tal 
nicht als solcher beboxbar. Dann ist auch die Frau, eine 
Schauspielerin oder Nichtschauspielerin, nicht mit den Ex 
krementen eines bürgersteigtrottendan Intellekts bewerfbar. 
Ist diese Frau nicht mit ihr ungreifbarer Belastung hilflos hin 
gestellt, zum Weiterspielen gezwungen. Denn was soll sie? 
Gibt ihr wer den Weg? Was weiss sie, als dass sie auf 
der Bühne steht und spielt oder nicht, so beirrt oder verirrt sie 
von ihrer Umgebung dazu veranlasst wird. Nicht mal d es weiss 
sie! Spiegelt, spielt. Keiner ist da, der auflöst und auffängt, 
alles tilgt. 
Jacobsohn wollte den Wertnimbus, den die Berliner Kritiker 
dieser Schauspielerin schrieben, erledigen. Erzielte: Ein Revolver 
blatt zerschnüffelte nachttöpfelnd „seinen“ Fall. Bedenkt: sein 
Braten! all die Fladen: sein Braten! Wiederum roch Moral! 
Das deutsche Gretchen wird für des Volkes Bühnen gekreiert, 
das Reformkleid angepasst. In Deutschland kriecht aus jeder Ecke 
das Kunstgewerbliche. Professor Siegfried trägt unentwegt seine 
Fahnenstange ungeachtet eer Eierschalen aus den Berliner Grün 
derjahren, die an seinen Redaktionsrockschössen kleben, unentwegt 
durch den grossen, grünen Theaterwald. „Stramm sitzt der 
Kneifer auf dem Nasenrücken“. 
Michaelis sollte alle Theater, diese Steinbaukästen, für Speicher* 
zwecke aufkaufen lassen!!!!!!!!!! 
Mitarbeiter dieser Nummer: 
Friedrich Markus Huebner, Johannes Reinelt, George (irosz, 
Richard Huelsenbeck, Franz Jung, Max Herrmann, Helmut Herzfeld. 
Verantwortlich für den gesamten Inhalt: Helmut Herzfeld, ßerlln-Halenste. 
Druck: Maurer £ Dimmick, Berlin.
	        
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