Volltext: Der Sturm (13 (1922), 4)

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Tageblatts werden nun wieder nicht wissen, 
was Dauerbezieher sind, weil nämlich die 
Schriftgelehrten des Tageblatts wieder nicht 
deutsch können. Aber Stahl weiss, was 
Kubus heisst. Woraus er schliesst, dass der 
Expressionismus „eine zu den Ahnen ver 
sammelte Mode sei“. Ein kühnes Bild zwar, 
geschaffen von dem Kunstkritiker, der weiss, 
was Kubus heisst. Vor längerer Zeit hat 
Herr Stahl einmal folgendes festgestellt. 
Er habe ein Buch über Kubismus gelesen 
von einem Herrn, der in Paris gewesen sei. 
Dieser Herr habe von einem anderen Herrn 
gehört, dass der Kubismus gestorben sei 
und dass man nunmehr in Paris wie Ingres 
male. Herr Stahl persönlich teilt mit, dass 
er das immer gewusst habe. Der Herr 
Kubismus habe überhaupt nie gelebt. In 
folgedessen habe er ganz genau gewusst, 
dass dieser Herr Kubismus bald habe sterben 
müssen. Was ihm nunmehr von dem Herrn 
aus zweitem Munde bestätigt worden sei. 
Jetzt hinwiederum, im Februar 1922, habe 
er, Herr Stahl, persönlich der Eröffnungs 
feier der Marc-Ausstellung in der National- 
Galerie beigewohnt. Er habe sogar per 
sönlich Briefe des Malers vorlesen hören. 
Er sei sodann sogar persönlich in die Bilder 
säle hinaufgestiegen: „Aber es war ein Herab 
gleiten. Die hochgezogenen Brauen sanken 
in ihre alltägliche Lage zurück. Und als 
man einen der Getreuesten nach dem Ein 
druck der Bilder fragte, antwortete er: 
Aber die Briefe! So steht es schon heute 
um das Werk eines dieser Jungen, die man 
als ewige Werte ausgeschrieben hat.“ Dies 
mal hat Herr Stahl also aus erstem Mund 
etwas gehört, worauf seine Brauen in die 
alltägliche Lage zurücksanken. Und tri 
umphierend schliesst dieser Herr Stahl aus 
der Brauenlage, dass es so schon heute um 
das Werk dieses Jungen stehe. Anerkennens 
wert bleibt immerhin, dass Herr Stahl per 
sönlich in die Bildersäle hinaufgeglitten ist, 
wo [er doch ruhig abwarten konnte, 
bis er den Herrn einmal in seiner alltäg 
lichen Lage getroffen hätte. Aber so steht 
es nun einmal um den Herrn Stahl. Er 
schreit sich als ewigen Erkenntniswert aus 
und hat immer schon gewusst, was Kubus 
heisst und was sterben wird. Er persönlich 
ausgenommen. Schliesslich muss man sich 
doch für die Einheitsgemeinde erhalten. 
Ganz besonders aber weiss Herr Stahl auch 
in der Zoologie Bescheid. Er hat das Leben 
der Tiere in der Jerusalemer Strasse per 
sönlich so beobachtet, dass ihm der Franz 
Marc keinen Stier für ein Behkalb malen 
kann. Herr Stahl beruft sich sogar auf 
Franz Marc, der nach seinen Briefen sich 
selbst noch nicht genug vollkommen vor 
kam. Und das hat der Herr Stahl mit 
seinem Scharfblick auch sofort erkannt. 
Er brauchte nur die Bilder nicht zu sehen 
und wusste trotzdem schon, was Kubus 
heisst, dass Franz Marc nicht vollkommen 
und der Expressionismus bei den Ahnen sei. 
Da staunste! Immerhin wird der Mensch 
mit dem zunehmenden Alter vorsichtiger: 
„Ein Bild, ein Ganzes in Rhythmus und 
Farbe, wie er wollte, hat er in diesen 
Jahren des Suchens kaum geschaffen.“ 
Kaum ist die Vorsicht des Alters. Der 
Mensch kann schliesslich auch in fünf Minuten 
etwas übersehen haben. Aber man kann 
nie vorsichtig genug sein: „Was wirkte und 
den Glauben an seine Kraft aufrecht erhält, 
sind zwei Dinge“. Nämlich nicht das Reh 
kalb hat gewirkt, sondern Herr Stahl hält 
seinen Glauben an einen Hund aufrechf und 
auf einige Gelegenheitspostkarten: „Diese 
kleinen Bildchen stellen seine eigentlich 
schöpferischen Leistungen dar“. Nämlich: 
„Während sonst überall nur Absichten zu 
sehen sind, spürt man hier, wo er sich 
gehen lässt, einen aus dem Wesen strömen 
den Willen“. Der strömende Wille, der 
sich gehen lässt, fährt den Ansichten des 
Herrn Stahl in den Weg und zwar so, dass 
der kaum verstorbene Expressionismus aus 
den Wolken fällt: „Marc wusste garnicht, 
dass er hier die neue Malerei, die er bald 
hier, bald dort in zweifelhaften Vorbildern 
suchte, aus eigenem Gefühl gefunden hatte“. 
Das wusste Marc nicht. Dafür weiss es 
Herr Stahl, der ausserdem weiss, was Kubus 
heisst. Also, um es zusammen zu fassen: 
Marc hat aus eigenem Gefühl eine neue 
Malerei, wenigstens auf Postkarten und auf 
einzelnen Stellen von Bildern, gefunden. 
Diese neue Malerei aus eigenem Gefühl 
ist eine Mode, die gestorben ist. Nach ihrem 
seligen Tode hält sie aber den Glauben an 
ihre Kraft aufrecht und wirkt gelegentlich 
selbst auf Herrn Stahl. Für wen das nicht 
eine klare Analyse ist, der kann unmöglich 
die Bücher der „geistigen Führer dieser 
merkwürdigen Kunstgemeinde“ verstehen.
	        
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