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Schuld dieser Phrase blutet sie nun wie nie zuvor. Und sie
wird einmal an ihr verbluten, wenn sie nicht anfängt, das Wort
zu erleben, bevor sie es ausspricht, wenn sie nicht aufhört, es
auszusprechen, weil andere es ausgesprochen haben, wenn sie
nicht vor ihrem Hauptwort Kultur, in dem alles zusammenrinnt,
was Phrase ist, Entsetzen erfasst. Dann ginge es von Wort zu
Wort. Eines um das andere bräche nieder und zugleich die Tat,
die es ward. Und auf diesem Schutt, der alles Leere, Laue und
Lügenhafte unter sich begrübe, stünde der Mensch und hätte nur
noch sein Kreuz. Dann hätte er Moral. Denn sie ist das wahre
Wort und seine Tat. Sie ist das Erleben der Schuld, welche jede
Tat ist, der ein dumpfes Wort Antrieb war, und welche jede
Tat wird, der das Wort fehlt. Darum hat, wer dieses Erlebens
voll ist, tiefsten Abscheu vor jenem Wort und tiefste Scheu vor
dieser Tat. So lebt er zwischen der Verzweiflung hinter seinem
Abscheu und der Angst vor seiner Scheu. Die Last dieser Qual
vermag er zu tragen, weil an das Wort, zu dem ihm der Geist
nicht gegeben ward, zu glauben, der Geist, der ihm gegeben
ward, die Kraft gibt.
Die sie nicht zu tragen vermögen, kennen sie nicht. Ihnen
wird die Tat ihrer Phrase weder Schuld noch Abscheu. Und
ihre Phrase sollte sie da beunruhigen? Wie weitab sind sie vom
Wort. Und noch heute, da sie für die Kultur, die gegen dieses
Opfer sein müsste, wenn sie Moral wäre, die Moral opfern,
sprechen sie von Kultur. Sie entrüsten sich über die Zerstörung
einer Kathedrale, deren Kultur darin bestand, dass sie, ein stei
nernes Gebet, alle Qual nach oben trug, statt über eine Kultur,
deren Kathedrale ihre Zerstörung nicht zu verhindern vermochte.
Wo ist die Qual geblieben? Sie war nicht da, als die Kathe
drale stand, und die Entrüstung, als sie fiel, war nur wieder die
Phrase, in deren Namen man sich entrüstete. Nur wo die Qual
so klein ist, kann die Phrase so gross werden. Und auch hier
ist es nicht zufällig, dass die Fassaden, deren Stil von Stock
werk zu Stockwerk sich ändert, so zahlreich sind und keinen
Stil aufweisen, der einem andern inneren Zustand entspräche als
dem, der fremde Stile braucht. Der Parthenon war der selbstän
dige Ausdruck einer niedrigen Freude, die ihre Götter auf Erden
hatte, die Pyramide der einer Qual, die gigantisch nach oben
stieg. Heute ziert der Akanthus Litfassäulen und es gibt in Deutsch
land einen Friedhof, auf dem eine kleine Pyramide als Grabstein
steht. Nicht erst des Kriegs bedurfte es, um auch den Tod, nicht erst
zerstörter Kathedralen, um auch das Leben als Phrase zu erleben.
Es wohnt lieber in einer gothischen Schlosskemenate, die ihm die
innere Leere mit einem dumpfen Gefühl stopft, als in einem
kahlen Zimmer, in dem einer Gedanken haben muss, um die
äussere Leere zu ertragen. Es hält sich Museen und Sammlungen