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lesen werden kann, macht sie so schwer erfühlbar. Denn ge
spielt wird sie stets zum schwankenden Tönen und in die Zeit
gesetzt und fast ganz konkret, wenn sie virtuos, also unter dem
beherrschenden Willen eines Körpers wiedergegeben wird.
Wirkend und doch unbegreiflich, breitet sie sich dumpf und
schwer um den Kopf und nimmt denen, die ihr suggestiv er
liegen, für Stunden den kleinen Rest von Klarheit. Hier wird
sie nicht einmal zum Zeitvertreib wie alle niedere Musik, die
als Gesangs- oder Tanzbegleitung doch wenigstens ihren Zweck
erreicht und ebendeshalb dem Geist der wahren Musik näher
steht als ein Scherzo, von Hubermann gespielt. Ohne sie
lesen zu können, kann ihren Geist zu erfühlen beschieden werden,
wenn man ungesehen vom Nebenzimmer aus ein innerlich durch
aus unbeteiligtes junges Mädchen die Waldsteinsonate herunter
leiern hört. Es beginnt wie in der Mathematik mit der fiebern
den Gespanntheit, ob die Zahlenreihen in das richtige Verhältnis
geraten, ob die Aufeinanderfolge durch alle Fügungen hindurch
die richtigen Teilergebnisse bringt, und endet mit dem befreien
den Gefühl, dass alles auf gegangen ist. Aber es ist gestei
gerter und unwirklicher, ein bewusstes und gleichwohl unge
dachtes Hinausgelangen über alles Zeitliche. Es ist unbeschreib
lich. Denn es ist Musik. Und es ist unreproduzierbar. Darum
ist der Virtuose, dieser Sänger auf dem Instrument, kein Künstler.
Und darum ist es auch der Sänger nicht. In ihm erreicht der
Ton seinen grössten Wirklichkeitsgrad und damit seine grösste
Schwankung. Hier vermag er auch nicht mehr für die Note zu
stehen. Die letzte Höhe, die Beethovens Musik erklomm, ver
möchte auch das innerlich unbeteiligteste Singen nicht zu vermit
teln und es ist nicht zufällig, dass jene beiden Werke für keine
Stimme geschrieben wurden. Die, welche gesungen werden,
sind, wenn sie aufhören, Zeitvertreib zu sein, unter Musik ge
setzte Sätze. Das Wort, das den tiefsten Ursprung hat und
seinen Ton nur in der Sprache, wird hier vertont und soll in
seiner gewalttätigsten Entstellung sein Bestes geben und das
der Musik. So lästert das Wort die Musik und die Musik das
Wort. Und so gibt der Virtuose der Stimme mit dem des In
struments ein Konzert, das ein Ohrenschmaus sondergleichen ist.
Wird es aber gar zum Schau-Spiel, zu welchem das Leben
komponiert ward, so gibt es die vielfachste der Lästerungen,
die Oper. Ihr Massenaufgebot von Reproduktionen ist heute am
meisten geschätzt und am häufigsten besucht. Es entspricht
seiner Zeit, die überall den Virtuosen mit dem Künstler ver
wechselt, das Künstliche mit der Kunst, die Reproduktion mit
dem Geist. Ihre Kunst, auch wenn sie sich nicht reproduktiv