Full text: Sirius : Monatsschrift für Literatur und Kunst (8)

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lesen werden kann, macht sie so schwer erfühlbar. Denn ge 
spielt wird sie stets zum schwankenden Tönen und in die Zeit 
gesetzt und fast ganz konkret, wenn sie virtuos, also unter dem 
beherrschenden Willen eines Körpers wiedergegeben wird. 
Wirkend und doch unbegreiflich, breitet sie sich dumpf und 
schwer um den Kopf und nimmt denen, die ihr suggestiv er 
liegen, für Stunden den kleinen Rest von Klarheit. Hier wird 
sie nicht einmal zum Zeitvertreib wie alle niedere Musik, die 
als Gesangs- oder Tanzbegleitung doch wenigstens ihren Zweck 
erreicht und ebendeshalb dem Geist der wahren Musik näher 
steht als ein Scherzo, von Hubermann gespielt. Ohne sie 
lesen zu können, kann ihren Geist zu erfühlen beschieden werden, 
wenn man ungesehen vom Nebenzimmer aus ein innerlich durch 
aus unbeteiligtes junges Mädchen die Waldsteinsonate herunter 
leiern hört. Es beginnt wie in der Mathematik mit der fiebern 
den Gespanntheit, ob die Zahlenreihen in das richtige Verhältnis 
geraten, ob die Aufeinanderfolge durch alle Fügungen hindurch 
die richtigen Teilergebnisse bringt, und endet mit dem befreien 
den Gefühl, dass alles auf gegangen ist. Aber es ist gestei 
gerter und unwirklicher, ein bewusstes und gleichwohl unge 
dachtes Hinausgelangen über alles Zeitliche. Es ist unbeschreib 
lich. Denn es ist Musik. Und es ist unreproduzierbar. Darum 
ist der Virtuose, dieser Sänger auf dem Instrument, kein Künstler. 
Und darum ist es auch der Sänger nicht. In ihm erreicht der 
Ton seinen grössten Wirklichkeitsgrad und damit seine grösste 
Schwankung. Hier vermag er auch nicht mehr für die Note zu 
stehen. Die letzte Höhe, die Beethovens Musik erklomm, ver 
möchte auch das innerlich unbeteiligteste Singen nicht zu vermit 
teln und es ist nicht zufällig, dass jene beiden Werke für keine 
Stimme geschrieben wurden. Die, welche gesungen werden, 
sind, wenn sie aufhören, Zeitvertreib zu sein, unter Musik ge 
setzte Sätze. Das Wort, das den tiefsten Ursprung hat und 
seinen Ton nur in der Sprache, wird hier vertont und soll in 
seiner gewalttätigsten Entstellung sein Bestes geben und das 
der Musik. So lästert das Wort die Musik und die Musik das 
Wort. Und so gibt der Virtuose der Stimme mit dem des In 
struments ein Konzert, das ein Ohrenschmaus sondergleichen ist. 
Wird es aber gar zum Schau-Spiel, zu welchem das Leben 
komponiert ward, so gibt es die vielfachste der Lästerungen, 
die Oper. Ihr Massenaufgebot von Reproduktionen ist heute am 
meisten geschätzt und am häufigsten besucht. Es entspricht 
seiner Zeit, die überall den Virtuosen mit dem Künstler ver 
wechselt, das Künstliche mit der Kunst, die Reproduktion mit 
dem Geist. Ihre Kunst, auch wenn sie sich nicht reproduktiv
	        
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