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Aber 'Bismarck war zu klug’; er wies das Unmög
liche von sich, um nur 'das Mögliche zu erreichen. Hätte
er die preußischen Siege für eine vollständige Abschaf
fung des Konstitutionalismus ausgenützt, dann wäre
Preußen im Rate der Völker unmöglich geworden und
hätte niemals die Führung der demokratisch veran
lagten deutschen Siildstaaten übernehmen können. Bis
marck ließ sich die fortan demütige Haltung der preu
ßischen Nationalliberalen genügen und steckte im
übrigen eine höchst liberale Miene heraus: Preußen ist
ein konstitutioneller Staat, Preußen will den maßvollen
Fortschritt! Wenn mich die Blindheit der parlamen
tarischen Mehrheit auch da und dort zu reaktionären
Maßnahmen zwang, so bin und bleibe ich doch ein
modern denkender, auf die Verfassung schwörender
Staatsmann. Das war Bismarcks Sprache gegenüber
den deutschen Südstaaten und gegenüber der Welt. So
behielt er die Leitung der deutsch-liberalen Einheits
bewegung fest in der Hand und schaffte nach außen
hin den vorzüglichen Eindruck, als ringe sich Deutsch
land unter seiner Führung der nationalen Vereinheit
lichung entgegen.
Das Junkertum, das niemals weitscbauend und
ideal denkend ist, grollte. Es konnte ja nicht ahnen,
daß die liberale Aera von 1866/1870 nur das (in Preußen-
Deutschland immer notwendige) Possenspiel für die
Einleitung neuer Junkertriumphe war. Die Schaffung
des Norddeutschen Bundes und Norddeutschen Parla
ments, die Wiederherstellung von Kaiser und Reich
nach Sedan war ganz und gar nicht nach dein Ge
schmack der Herren Ostelbier. So viel war ihnen frei
lich von vornherein klar: Diese „Kaisermach erei“ war
kein „jüdisches Geschäft“ mehr wie in 1848. Aber trotz
allem und allem hing ein Tröpfchen demokratischen Oels
an dieser Kaiserkrone. Der Kriegsminister von Roon
schrieb aus Versailles die recht bezeichnenden Worte
an Blankenburg: „Denn die Nationalen und sonstigen
Liberalen haben ganz recht, daß mit dem nun zu Ende
gehenden Kampf und dem errungenen Sieg eine „neue
Aera freiheitlicher Entwicklung“ anheben muß ....
Ich vermisse den Boden, auf dem eine konservative
Partei der Zukunft Fuß fassen könnte.“