DIE ÖSTERREICHISCHE FRAGE
von. Siegfried Flesch.
(Nummer 59, 3. November 1917.)
Die geistige Verwandtschaft der vor dem Welt
kriege in München von mir geleiteten „Kritischen Tri
büne“ mit der „Freien Zeitung“ veranlaßt mich, auch
an dieser Stelle vor einer Gefahr zu warnen, die sich
aus 'der Vernachlässigung der österreichischen Frage
drohend zeigt. — Im Jahre 1913 wurden die öster
reichischen Länder mit einem Aufrufe „An .die Völker
Oesterreichs“ überschwemmt, in dem (die verschiedenen
Nationalitäten aufgefordert wurden, sich in ihren
Freiheitsbestrebungen . zu vereinigen, den lokalen
Hader und die kleinlichen Reibereien einzustellen, um
sich vereint gegen die Zentralregierung zu wenden
und die Auflösung der Donaumonarchie auf Grund
des Nationalitätenprinzips herbeizuführen. „Ein Ge
wehrschuß an der südlichen Donau genügt, um Europa
in Flammen zu setzen“, hieß es dort, „Völker Oester
reichs erhebet Euch zu Nationen“. Kein Jahr war
vergangen, uüd ein Schuß war gefallen, der den di
rekten Anlaß zum Weltbrand gab. Die innere Zusam
mensetzung Oesterreich-Ungarns war der Herd aller
europäischen Unruhe, und wird es bleiben, falls die
Monarchie in irgend einer Form bestehen bliebe.
Wer sich anschiekt, die sogenannte österreichische
Frage zu untersuchen, muß sich vor allem von den
nationalistischen Voreingenommenheiten der ver
schiedenen Stämme, die in der Donaumonarchie ver
eint sind, befreien. Die Frage muß vom europäischen
Standpunkt aus gestellt werden. Man muß sich dar
über klar werden, wias Oesterreich-Ungarn im Europa
des 20. Jahrhunderts darstellt. Man muß sich die ge
fährlichen Agitationen uüd 'die unversöhnlichen
Kämpfe vergegenwärtigen, die seiner eigentümlichen
Struktur entspringen.
Es ist notwendig, zu beweisen, daß das Sein oder
Nichtsein' Oesterreich-Ungarns ein Problem darstellt,
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