Full text: Almanach der Freien Zeitung (1918)

203 
tenld sind. Diese Leute waren bis zum Juli 1914 über 
zeugt, daß die europäische Mobilisation vom euro 
päischen revolutionären Generalstreik begleitet sein 
werde: „Wenn man dem klassenbewußten Proletariat 
Waffen in die Hände gibt, so wird es für seine Inter 
essen und nicht für die seiner Sklavenhalter kämpfen.“ 
Für diese Leute wäre es also im Moment des Kriegs 
ausbruches dringend notwendig gewesen, in die Heimat 
zu gehen, nicht um des Vaterlandes, sondern um des- 
Sozialismus willen. Doch das taten diese Theoretiker 
nicht, während der ersten Kriegsmonate blieben sie 
verborgen. Als sie dann zahlreich genug waren, fanden 
sie -sich wieder in den sozialistischen Diskutierklubs 
ein und bewiesen sich gegenseitig, daß der wahre 
soziale Revolutionär jeder Gelegenheit, Revolution zw 
machen, aus dem Wege geht. Es entstand ein ver 
giftetes Milieu, dessen Sumpfblüte die Theorie von 
Zimmerwald ist. Sie bedeutet ungefähr: „Alle Staaten 
sind kapitalistisch, darum sind alle Staaten eroberungs 
lustig, sogar auch Belgien und die Schweiz. Nur pazi 
fistische Illusionisten, kleinbürgerliche Demokraten - 
und andere von der Ententepresse beschwindelte 
Kindsköpfe glauben, daß es jemals besser werden kann, 
bevor die ganze jetzige Weltordnung gestürzt wird.“ 
Diese Zimmerwalder Theorie ist trotz ihrer revo 
lutionären Terminologie strikte antirevolutionär. In 
dem sie jede Individualverantwortlichkeit einer ein 
zelnen herrschenden Schicht oder Staatsregierung aus- 
sohaltet, nimmt sie der moralischen Entrüstung über 
den Krieg und sein Elend jedes Ziel. Indem sie 
jeden Fortschritt innerhalb der nun einmal nicht von 
heute auf morgen umzustürzenden Eigentumsordnung 
wie Demokratie, Abrüstung, Schiedsgerichte usw. als 
sinnlos entwertet, nimmt sie jeder revolutionären oder 
demokratischen Volksforderung den Sinn. Warum 
sollen die Deutschen oder Hussen eine Republik for 
dern, wenn Republik und Absolutismus gleich schlecht 
sind'? Diese Theorie, die zudem noch mit aller sozia 
listischen Lehre im Widerspruch steht (sowohl mit der 
marxistischen als mit der anarchistisch-individualisti 
schen Doktrin), bildet den besten Vorwand dazu, wäh-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.