Full text: Zeit-Echo (3(1917), 1. und 2. Maiheft)

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EUROPÄISCHE GESELLSCHAFT 
Wir leben noch. 
Es ist kein Stolz, kein Ruhm, keine Ehre. Auch dies nicht, daß uns 
nichts anderes übrig bliebe. Sondern es ist unsere letzte Selbstverständ 
lichkeit. Unsere erste Forderung. 
Es gab die langen Zeiten, denen der wissende Gang zum Tode Mär 
tyrertum war. Es kann eine Frage sein, ob Märtyrertum heute noch den 
Wert des Wirkens hat. Aber die Zusammenballung zum Leben, der 
unaufhörliche Widerstand gegen das Vergleiten in willenlosen Tod, der 
alltägliche Gang auf dem schmälsten Grat des Lebens, die einfache Be 
wahrung des Lebenbleibens, das ist das Märtyrertum dieser Zeit. Wir 
legen Zeugnis ab für das Leben. Und selbst wenn wir umstellt und 
niedergemacht werden: unser Wille wird weit in die Jahrhunderte greifen, 
unvergeßbar. 
Unsere Brüder zum Leben sind da. In allen Ländern wissen wir sie. 
Niedergeschrien, mundtot, scheu gemacht von künstlich aufgeblähten 
Majoritäten, deren Massengeschrei schlau verstärkt wird durch die amt 
lichen Schallrohre der Informations-Schlagworte. 
Unsere Brüder vom Leben sind da, man umstellt sie mit stacheldräh- 
tigen Nationalwänden, man schlägt ihnen die Augen blind wie gemarterten 
Pferden, aber dennoch wissen sie von uns. Und sie sind jederzeit bereit, 
uns die Hand zu drücken. 
Es kommt einzig darauf an, daß niemand von uns den Mut sinken 
läßt. Es kommt darauf an, jederzeit eingedenk zu bleiben, wie viele der 
Geistesbrüder in allen Ländern da sind und aufeinander warten. Es 
kommt darauf an, manchen Versprengten Mut zu machen, Mut zum Wider 
stand, und ihnen zu zeigen, daß sie nicht allein sind. 
Wir werden nicht warten, bis die Wissenden dieser Zeit alle tot sind 
und eine neue Generation erwachsen, die der Kriegsdinge von Kindheit 
auf gewohnt ist! Das Einzige, das Geringste und das Schwerste, was uns 
auferlegt sein muß, ist, aus diesem Kriege hervor, durch ihn hindurch 
den Menschen zu retten. 
Es wird nicht sein, daß das Geistige — welches allein den Menschen 
formt unter allen Wesen der Erde —,daß die göttliche Würde des Menschen 
überkarrt werde von den Rädern der Kriegsmaschinen. Das wird nicht 
sein. Aber wir alle, die wir wissen, daß dies nicht sein wird, die wir wissen, 
daß unser Ziel ist, den Menschen für den Menschen zu bewahren, uns
	        
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