Full text: Zeit-Echo (3(1917), 1. und 2. Juniheft)

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tfttbert Gßrensfein: 
MENSCHLICHKEIT! 
Bittere Erinnerung lebt auf in mir der Tage des Volksschülers, den auf 
dem Wege zur Schule schuldlos das „Geh zum Teufi, Saujud vafluchta“ 
der Kameraden traf und durchstach. Dieses Schimpfwort — wie wohl 
jeder Jude — empfangen zu haben gleich den ähnlichen Liebkosungen 
„Moses, Salomon, Samerl“ entsinne ich mich, auch der in Wien an jeden 
kleinen Israeliten von Gassenjungen gerichteten Frage „Jüderlach-he! was 
kosten die Flöh?“ Darauf folgte dann die Versicherung, daß die Sara 
Läuse habe. 
Trotz gegen diese Kleinwelt mag es gewesen sein, die mich, dem Ge 
bote der frommen Großeltern gehorsam, in Wien oder in der ungarischen 
Slowakei, wo es noch weniger an drastischen Beschimpfungen fehlte, vor 
katholischen Prozessionen in die Toreinfahrt trieb, das Kreuz nicht grüßen 
zu müssen. (Dies war Flucht: Zionismus.) 
Sehr früh entwickelte sich eine ungemein starke Abneigung gegen 
Jesus Christus in mir; ich fand, es werde eine unverdient kräftige Reklame 
für ihn getrieben mit tausend Kirchen, Kapellen und Kreuzhölzern, ihm 
zu Ehren, den ich von Anbeginn für den „stinkerten Saujuden“ und die 
restliche Insektensprache verantwortlich machte. 
Wenn mir ein Gstanzel entgegenscholl, wie: „Jud, Jud! spuck in Hut, 
sag der Mutter, das ist gut!“ — der Untergymnasiast schon trug die 
feindlichen Äußerungen nie den naiven Beleidigern nach, ins Herz drang 
ihm die Wut gegen den Urheber, der ihm verräterisch, zu eigener Erhö 
hung, im Tode sein Volk mit Blutschuld befleckt zu haben schien. 
Das Judentum selbst sprach zu mir mit heiligen Klängen, die ich kaum 
verstand, ergreifenden Zeremonien, die mich in Gebetmänteln umrauschten, 
mit Riemen banden. 
Die Schönheit des Seders ließ mich aber keineswegs die blutige 
Schattenseite: Beschneider und Schächter vergessen, noch gar die pharisä 
ischen „Religionslehrer“ und Rabbiner, Schächter, die den kindlichen 
Glauben beschnitten. 
Zum Wesen meiner Religionslehrer gehörte, daß sie hebräische Fibeln 
und Grammatiken verfaßt hatten, deren Erwerb den hauptsächlichsten Teil 
des nichtigen Unterrichts bildete; sie bevorzugten wohlhabende, un 
wissende Schüler vor ärmeren, die jenes hebräische Wissen besaßen, das 
die Lehrer selbst nicht vermittelten. Es gab Maturanten, die ihre Bibel
	        
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