Volltext: Zeit-Echo (3(1917), 1. und 2. Juliheft)

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aber den anderen Weg zu gehen, der zur Knechtschaft, zur Zerstörung 
ihres moralischen Wesens, zur Auflösung und zum Kriege m’it sich selbst 
führt. Sie kann ihr Leben wählen oder ihren Tod, das Gute oder das Böse. 
Wählt sie aber das Böse, so sinkt sie nicht allein zur Natur herab, die 
zu überwinden ihre Bestimmung gewesen wäre, sondern da sie selbst frei 
willig ihre Freiheit in Unfreiheft, ihren Geist in Ungeist, ihre Einheit in 
Entzweiung verkehrte, sogar unter die Natur. Diese selbst aber erhebt sich 
alsdann vor der verworfenen und schuldbeladenen Menschheit in der stillen 
Größe ihres unwandelbaren Seins als das Sinnbild des verlorenen Paradieses, 
des zerstörten Friedens und der zertrümmerten Einheit — gleichsam als 
der mythische Garten der Gottheit, worin im ersten Weltalter der noch 
schuldlose Mensch und die noch unblutige Kreatur mit ihrem göttlichen 
Erzeuger vereinigt lebte, bis er durch seine Verschuldung das heilige Band 
zerriß und sich mitsamt der ganzen Schöpfung in den Abgrund des Todes 
stürzte. Der Kampf, der auch in der Natur waltet, versinkt vor dem furcht 
bareren Kampfe der Menschheit wider sich selbst, da nur diese dadurch 
sich selbst aufhebt. Dann spricht die Natur zu uns von dem tiefen Zusam 
menhang alles Lebens und alles Blutes, den der frevelnde Mensch wie einen 
heiligen Vertrag zerrissen hat. Dann richtet sich in ihr das durch uns ge 
schändete Leben vor uns auf und ruft uns unsere Schuld und Schande ins 
Gesicht. Der Glanz ihres Lichtes und das Bild ihrer Schönheit tritt wie 
ein glühender Vorwurf vor unsere Seele. « Horch, das Blut deines Bruders 
schreit zu mir vom Erdboden auf!» 
So ist es die Stimme der Natur, die in uns nunmehr die Sehnsucht nach 
dem, was wir verloren, ja vielmehr selber preisgegeben haben, mit leiden 
schaftlicher Mahnung in uns entzündet. Sie muß zu einem Ruf derAnklage 
wider uns selbst anschwellen und sich vor unserem wachgewordenen Gewissen 
in den Klagelaut der in ihrer Würde erniedrigten Menschheit verwandeln. 
Wir wissen, daß die Natur, ihrem wissenscßaftficßen Begriffe nach, nichts 
anderes ist als die Gesamtheit bewußtloser und ungeistiger Gesetzmäßigkeiten, 
ja, daß in ihrem Reiche ein ständiger Kampf tobt, in dem allein die physische 
Kraft den Ausschlag gibt. Das Bild der scßönen Natur, aus welchem wie 
durch einWunder die tote Unbewußtheit des Gesetzes verschwunden und der 
verzehrende Kampf in das Gleichnis der Einheit aufgehoben zu sein scheint, 
ist aber in Wahrheit schon ein Akt der Vergeistigung der Natur. In dieser 
ästhetischen Anschauung ihres Seins vollzieht sich bereits ihre Mensch 
werdung, die in einer auf sie gerichteten, schöpferischen Handlung des 
menschheitlichen Geistes entspringt. Und so spricht die scßöne Natur —
	        
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