Volltext: Zeit-Echo (3(1917), August-September)

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Der Mann bringt sich wegen seiner Frau um. Und die Frauen bringen 
sich um, weil die Männer gefallen sind. So löscht kreuzweise Eines das 
Andere aus.“ Er deutete auf das Mädchen, das neben dem Philosophen 
lag: „Das ist eine Ladnerin; bei ihr war’s der Bräutigam.“ 
„Das haben Sie mir schon gesagt.“ . . . ,Und jetzt liegt der Philo 
soph neben der Ladnerin. Der Knabe neben der alten Dame. Die Wasser 
leiche neben der Giftleiche. Und am häufigsten sind die Gasleichen. Und 
an der Front liegen Millionen Leichen. Und in Berlin lebt, siegt und 
verdient man weiter. Die Elektrischen fahren. Und in den Theatern wird 
gespielt. Und darauf ist man stolz. Denn das ist ein Zeichen von Kultur.* 
„Haben Sie von der revolutionären Friedensdemonstration gehört?“ 
Der Leichenwärter gab keine Antwort; er wischte wieder das Wasser 
auf, das von der Leiche heruntergetropft war auf den Steinplattenboden. 
Plötzlich zerbrach ein letzter Widerstand, eine letzte Vorsicht im 
Anwalt: er entschloß sich, sofort den Hotelkellner aufzusuchen. 
Unwillkürlich drehte er beim Abschiednehmen das Licht aus. Die 
Leichen schwammen wieder zu einer dunklen Masse zusammen. 
Die Rechnung des Leichenwärters war einfach: ,Da sich in Berlin, 
das drei Millionen Einwohner hat, in den drei Jahren achttausendfünf 
hundert Menschen wegen des Krieges umgebracht haben, werden sich in 
ganz Deutschland, das siebzig Millionen Einwohner hat, wohl hundert 
neunzigtausend Menschen wegen des Krieges das Leben genommen haben ... 
Und wieviele sind aus Gram über den Heldentod ihrer Angehörigen 
allmählich eingegangen? Und wieviele sind wahnsinnig geworden? Und 
wieviele Protestler sitzen im Zuchthause? Wieviel Schwache, Wider 
standsunfähige sind krank geworden und eingegangen, bei denen der Be 
fund des Arztes nur hätte lauten können: eigentlich sind sie verhungert?* 
Der Wärter war ein vorsichtiger Mann; er stand in seinem Privat 
zimmer vor dem Tische und wog seine Tagesbrotration pedantisch genau 
ab; er wollte nicht verhungern; er wollte den Krieg überleben; er war 
interessiert, zu erfahren, welches positive Resultat das Leid und der 
Tod so vieler Menschen nun eigentlich haben werde. 
,Das sind die Hinterlandkriegstoten: bis jetzt, vorsichtig gerechnet, 
hundertneunzigtausend Kriegsselbstmörder in Deutschland. Macht min 
destens eine Million Selbstmörder in allen kriegführenden Nationen zu 
sammen. Kommen hinzu die zehn Millionen Heldentote. Total: elf Mil 
lionen Tote . . . Kommen hinzu die zehn Millionen lebens- und arbeits 
unfähig gewordenen Krüppel. Und fünfhundert . . . nein achthundert,
	        
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