38
„Nein! . . . Höre, ein vielleicht noch klareres Beispiel dafür, was Mili
tarismus ist: ein Soldat bekommt den Befehl, einen siebzigjährigen Bauern
zu erschießen. Das war in Serbien. Der Soldat weiß nicht einmal, wes
halb der Alte erschossen werden soll. Der Soldat bekam nur den Befehl,
in dem stand, daß er den Alten in das zwei Stunden entfern fliegende
Dorf zu führen und dort zu erschießen habe . . . Sein ganzes Wesen, das
heißt, sein eigenes Wesen empört sich dagegen, diesen vollkommen wehr
losen alten Mann zu erschießen; dessen Verbrechen er nicht einmal kennt,
und der auf dem Wege zwei Stunden lang seine Unschuld beteuert in
einer Sprache, die der Soldat nicht versteht, und mit Tränen und Ge
bärden, die der Soldat ungeheuer versteht. Zwei Stunden lang kämpft der
Soldat, während er neben dem Opfer über Feld geht, mit seinem Gewissen,
hinter dem starr die Pflicht und die Disziplin stehen. Dieser Soldat hat
für sich persönlich folgende Lösung gefunden: er schoß zuerst den Alten
nieder, und dann erschoß er sich selbst. .. Jetzt meinst du vermutlich wieder:
wenn sein Gewissen, der dunkle, wilde Drang nach Wahrheit, nach seinem
eigenen Ich, nicht zuließ, den Alten zu erschießen, ohne auch sich selbst
zu erschießen, hätte er doch wenigstens nur sich selbst erschießen und
den Alten laufen lassen sollen . . . Aber das wäre ja gegen die Disziplin,
wäre ja eine Pflichtverletzung und wäre ehrenrührig gewesen. Das eben ist
der Militarismus. Nicht die Kanonen, sondern der negative Geist des
Zwanges ist der Militarismus, den der Grenzsoldat und dieser Soldat als
gegen den Geist, gegen das Gewissen, gegen ihr eigenes Ich gerichtet
empfunden haben, und den gleich ihnen noch viele empfinden. Diese er
leiden ein tragisches Schicksal; denn sie erkennen dunkel das vor Gott und
den Menschen sündhafte dieses Geistes, leiden unter diesem Geiste. Und
können sich nicht vor ihm retten. Millionen andere — nicht nur die Sol
daten, sondern das Volk in seiner großen Mehrzahl — haben, zwar nicht
vor Gott, aber vor ihrem, allerdings nur scheinbar vorhandenen, eigenen
Selbst — das Recht, im Dienste dieses Geistes zu kämpfen, Menschen zu
ermorden und selbst zu sterben; denn sie morden in dem guten Glauben,
nicht zu morden, sondern für ein Ideal zu kämpfen, für ein Vaterland,
für den Staat, für eine Gemeinschaft, die wert ist, beschirmt und erhalten
zu werden. Man hat sie von ihrer frühesten Kindheit an mit diesem Geiste
getränkt und gefüttert, ihr eigenes Wesen, ihr Ich in diesem Geiste total
ertränkt. Sie sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen.
Denn sie konnten zu eigenem Denken, zu der Fähigkeit, sich moralisch
zu entscheiden, konnten zu sich selbst, zu ihrem Ich nie kommen; sie sind