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ALFRED LEMM:
BRIEF AN ALFRED LICHTENSTEIN
Ich schreibe Ihnen, lieber Lichtenstein, ganz der so glückbringenden
Täuschung hingegeben, der Adressat wäre noch der Empfänger. Man
muß doch irgendwie mit Ihnen abschließen. So viel Macht haben die
Wirklichkeit und ihr schamlosester Komplize, von dem Sie einmal
sagten, er wäre kein Erlebnis, auch in unserem Königreiche, daß wir
sie offiziell anzuerkennen genötigt sind.
Lieber Freund, man sieht Sie hier unten nicht richtig. Man hält Ihre
Dichtungen von Art der »Dämmerung« für Ihre wesentliche Kund*
gebung, obwohl es doch nur Ihre genialste war. Dort ritten Sie eine
Hälfte des Lebens nur, den Geist — bis an das bald erreichte Welt*
ende. Dort waren Sie ein Seiltänzer auf einer Seite des Seins und
konnten sich schnell die letzte Spannung leisten. Schließlich ein beque*
mes non plus ultra. »Es gibt keinen Körper,« behaupten Sie, »es gibt
nur Geist.«Die »Dämmerung« istein früher Schluß, weil Sie wegließen.
Und zwar gerade das, womit Sie Ihre Behauptung bewiesen: am Sinn*
liehen. Am Rande radikalsterVerneinung desGestaltlichen durchschießt
die Freude am Gestalten Ihre Gedichte und wird Ursache ihrer erstaun*
liehen Vollkommenheit und, gar nicht selten, verlockender Spielerei.
In Ihren der Welt geöffneten Schöpfungen aber ist kein Widerspruch.
Wo Ihr ganzes Ich auf der Erde erschien, waren Sie nicht einseitig,
sondern allempfindlich. Hier waren Sie von allen Dingen berührt,
wenngleich Sie für sich die dunklen wählten. — In Ihrer Prosa ändert
sich die Handlung nur, damit Sie dasselbe anders ausdrüdeen können,-
es geht nicht aufwärts. Ihre Erzählungen sind Variationen über das*
selbe Thema. Wurden nur aus »technischen Schwierigkeiten« keine
Gedichte. Vielleicht war dieses ewige Fördern aus dem »Nein« Ihre
Beschränkung. Ein Gedächtnisfehler. Doch niemand kann sagen, wie
Ihnen, dem Fünfundzwanzigjährigen, sich die Schranken noch gewei*
tet hätten.