Volltext: Der Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917 (1)

dachte, was ihr denn einfiele. Um Zeit zu gewinnen, sah er an sich 
nieder und er murmelte: »Jetzt doch wohl nicht mehr.« Dies war es 
aber nicht, in ihm stammelte es anders. »Wer wie ich — « Und: 
»Beatrix!« Ihr Blich zog sich schon zurück, sie sah nicht weg, und sah 
schon nicht mehr ihn. »Hättest du geheiratet,« sagte sie, »vielleicht 
würde ich dann ein Asyl gehabt haben, wenn es mit mir aus ist.« 
Er schrak auf, fassungslos: »Mit dir!« Da schwieg sie zuerst gram* 
voll und sagte dann, mit einer Stimme wie eine Kranke: »Sieh' mich 
doch an! Sieh' mich doch nur wirklich an!« Und weil sie es wollte, 
sah er sie, sah mit einem Schlag alles. Sie hatte die Lippen heute nicht 
gefärbt, die Haut des Gesichtes gelassen wie sie war, dem Blich nicht 
nachgeholfen, das Kleid umgehängt wie um irgendeine Nebenperson, 
und stand auf einmal da, als sei sie entblößt von einem goldenen 
Nebel und in den Alltag versetzt. Die Augen erkaltet von Enttäu 
schungen und geschwächt von Verlusten, der Zug des Hohnes ein 
gewurzelt um den Mund, umgewühlt die Stirn wie ein Feld mit 
Leichen, und müde dies menschliche Wesen nach getragenen Lasten, 
entstellt das Antlitz und der Leib durch Kampf, den täglidien Kampf 
um das Brot der Seele und um ihr Dasein, den nie entschiedenen 
Kampf: so stand sie vor dem Bruder, der die Hände erhob, langsam 
aufhob und sie faltete. Da sie sah, er habe begriffen, sagte sie: »Diese 
acht Jahre waren eine lange, lange Zeit.« Und während ihre Stimme, 
kranke Kinderstimme, noch nachklang, strich sie tastend über ihre 
Hüften, als seien sie wund, oder als suchte sie nach ihrer verlorenen 
Form. Da riß er sie an sich, und hinsinkend weinten sie. 
Das Gesicht noch trocknend, eilte sie schon fort. Unter der Tür, 
zurückgewendet, sagte sie: »Morgen gehe ich auf eine Reise. Du 
kannst unbesorgt sein,« — sagte es inständig, als setzte sie hinzu: 
»Glaub mir, oder doch, laß mich es glauben!« Morgen kam, und sie 
war fort, und er in seinem Hofzimmer beim Gaslicht erdrückte mit 
beiden Händen in seinem Herzen, was er wußte, sein ungeheures 
Wissen. Zwei Tage, da rief man ihn in die Frauenklinik: tot sei sie,
	        
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