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liegt öas Gegenständliche der Dichtung uns viel zu nahe, als daß es uns gelänge,
ja: als daß wir willens wären, objektive Stellung zu ihr zu nehmen. Man fühlt
starke künstlerische Kraft, man-stellt fest, daß hier nicht konstruiertes Schreib
tisch-Schein-Erleben uns berichtet und zergliedert wird, und man wehrt sich gegen
neuerliche Erschütterung durch das, was längst wir hinter uns wissen wollen.
Vielleicht aber gibt es Menschen, die heute noch Kriegsbücher lesen können.
Ihnen sei „Die Nacht“ empfohlen. Sie ist entschieden höheren Belangs als die
in den üblichen Buchhandlungen reihenweise feilgebotenen Rechtfertigungs-Schar
teken abgesägter Generale.
Was über das andere Buch Reisers, den Roman „Cherpens Binscham, der
Landstreicher“ (in gleichem Verlag; gebunden Mk. 20.—; in Halbleinen Mk. 25.—)
gesagt werden muß, ist bereits auf den ersten Seiten dieses Heftes von Oscar
Maria Graf als Forderung aufgestellt worden. Der „Cherpens Binscham“ ist das
Buch eines „Lebendigen“, eines, dem Leben alles bedeutet und „Idee“ nichts,
dem „Menschen, die glauben, mit dem Hirn allein denken zu können, ... die un
glücklichsten Krüppel, die die Natur hervorbringt“, erscheinen. Erscheinen müssen;
denn die Sinnlichkeit des ewigen Landstreichers Binscham ist keine zerebrale
Verderbtheit, sondern entspringt tiefer, einfältiger Gläubigkeit an die Gewalt des
Blutes. Hingabe, voll kindlicher Inbrunst, an die Buntheit des Abenteuers schafft
Schelmenwerk, dessen Heimat nie und nimmer der Schreibtisch sein kann. Was
die Dadaisten wollen — und in ihrer übergeistigen, komplizierten Beschränktheit
niemals erreichen werden: Absetzung des Zerebralen in der Kunst, Thronerhebung
des Ursprünglich-Menschlichen: Das strebt Reiser reinen und unbeschwerten Her
zens an und wird es, hoffen wir, erreichen, wie es Charles de Coster (an den
der Verleger Reisers erinnert) in seinem Uilenspiegel gab, und der ehemalige
bischöflich Straßburgische Schultheiß Christoffel von Grimmelshausen, gestorben
anno Domini 1676 zu Renchen am Schwarzwald.
Alfons Goldschmidt, Moskau 1920 (Ernst Rowohlt Verlag, Berlin. Preis
brosch. Mk. 11.—). Ein Buch deutlicher Objektivität. Reiseerlebnisse nach einem
kurzen Aufenthalt, interessant wenn man geneigt ist, nach dem äußeren Leben
auf den Straßen und in den Departements auf die tieferen Verhältnisse des Lan
des zu schließen. Das nächste Werk Goldschmidts soll über die Wirtschaftsver
hältnisse Rußlands Aufschluß geben.
Max Krell, Die Maringotte (Ernst RowohltVerlag, Berlin. Preis brosch. Mk.12
Der Roman einer Tänzerin vom Aufstieg bis zum Fall. Ein Wirbel von
Geschehnissen. Triumph, Städte, Reichtum. Der Kern entsdiält sich nicht psycho-
logistisch, dichterisch vital. Sie wird von den Wogen ihres Spiels getragen. Es
sind eben Geschehnisse, weniger Erlebnis und die Spiralen des Glücks brechen,
weil das Leben stärker ist und für Zufälligkeiten wenig Verständnis hat. Der
Roman ist als Dichtung zu werten. Aus vielen Einzelheiten, die doch immer ein
Nebeneinander wahren, wächst der Roman unter dem Zwang innerer Notwendigkeit.
Jugendbücher. Sneewittchen. Ein Künstlerbilderbuch von Wanda Zeigner-
Ebel mit dem Märchentext der Gebrüder Grimm. Preis Mk. 19.—. Verlag Ger
hard Stalling, Oldenburg. Endlich ist hier einmal der Versuch gemacht, den tra
ditionell gewordenen Kitsch unsauberer Bilderbuchfabrikanten ein wahres Jugend
buch gegenüberzustellen. Deshalb sei es an dieser Stelle genannt.
Woraus alles gemacht wird, was wir zum täglichen Leben brauchen?
Herkunft und Werdegang unserer Nahrungs- und Genußmittel. Ein Bilderbuch