Volltext: Die weissen Blätter : eine Monatsschrift (2(1915),7)

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CarC Stern beim • Napofeon 
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Lage und alles Gewesenen hinzu und erfüllte ihn mit Haß gegen 
die Menschheit und den Schöpfer. Tiefer kroch er in sich hinein 
und häufte Anklage auf Anklage gegen die Welt. In einer dunklen 
Nacht stand er plötzlich vor den mit Brettern vernagelten Fenstern 
seines Lokals — noch hafteten einige goldene Buchstaben des Schil 
des — und in das Loch plötzlich riesengroßer Erkenntnis fiel die 
Summe fünfzigjährigen Lebens: ein blankes Nichts und Einsamkeit. 
Trotz und Empörung stachelten ihn zu neuem Tun. Gegen die 
Ungunst der Verhältnisse wollte er sofort versuchen, Mittel zu 
neuem Anfang zu schaffen ,• des gleichen Abends aber legte er sich 
irgendwohin nieder, spürend, es leide seine Natur nicht, daß man 
sie um das bestehle, was ihr vor allem notwendig sei: ungestörte, 
hingebende Trauer um Valentine. So suchte er sich einen Platz, der 
ihm nur das tägliche Brot gab. Früh am Nachmittag aber schon 
schloß er sich in seine Kammer ein, stopfte Fenster und Schlüssel 
löcher, legte sich aufs Bett und begann, die Frau von den Toten 
heraufzudichten. Nachdem er sie zuerst bis in die kleinste Einzel 
heit körperlich vor sich wieder hergestellt, ging er sein Leben mit ihr 
vom frühesten Anbeginn an durch. Um keinen Augenblick ließ er 
sich betrügen, repetierte die einzelne Situation so oft, bis sie in 
lebendiger Wahrhaftigkeit vor ihm stand. Jene erste, da sie mit 
Rockrüschen und Volants wie ein Quirl über seiner Stirn die Treppe 
hinaufgehuscht war. Die Beine in weißseidenen Strümpfen nahmen 
zwei, drei Stufen auf einmal, er sieht sie im Gelenk flitzen, 
und da — das aber hat er damals nicht gesehen — erscheint 
blitzend am Knie die goldene Strumpfbandschnalle. Wahrhaftig, als 
Wirklichkeit dauerte, vor lauter Schauen und Staunen hatte sein 
Bewußtsein sie nicht gefaßt. Und heute erstand sie das erstemal 
zum Leben, beschworen durch seine unwiderstehliche Zärtlichkeit. 
So drang er inständig weiter in Erinnerung ein und entriß ihr, 
mit Hingebung und Andacht um ein Nichts und den Bruchteil einer 
Sekunde kämpfend, so viel Nichtgespürtes und Nichterfahrenes, daß 
er ein völlig neues, reicheres Leben mit der gestorbenen Freundin 
führte. 
Als er bei jener Epoche angekommen war, in der sie ihr irdisches 
Leben beendet hatte, brachte er sie leicht über die Klippe des leib^
	        
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