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James Ensor
Christus unter den Schriftgelehrten
BELGIEN.
Das letzte Werk von James Ensor.
Christus unter den Schriftgelehrten: Hier
finden wir die ganze spöttisch=anzügliche Phantasie
dieses Meisters, seine ganze preziöse und doch wieder
vibrierende Beherrschung der Farben, die auf diesem
jüngsten Werk funkeln,- wir haben es vor einigen
Wochen noch auf der Staffelei gesehen in seinem er
staunlichen Ostender Atelier, wo sich die Wunder
einer unerschöpflichen Gestaltungskraft, einer ab
wechslungsreichen und außergewöhnlich persönlichen
Kunst anhäufen. Seht das treuherzige Kind, blond
und rosig, in seiner grünen Tunika, wie es ängstlich
und trotzig im dichten Kreis der Doktoren, Gelehrten
und Skribenten dasteht. Diese sind dargestellt mit
jenem Reichtum an anekdotischen Details, mit jener
diabolischen Kunst des barockenBeiwerks,der possen=
reißerischen Grimasse, mit jenem unermüdlichen Sinn
für das Pittoreske und Groteske, mit jener unerbitt
lichen Strenge, wie sie allein dieser immer jung und
ursprünglich gebliebene Meister besitzt: nie hat er
aufgehört gegen die menschliche Dummheit, gegen die
wissenschaftliche Barbarei, gegen die schulmeisterliche
Anmaßung zu revoltieren, dabei aber selbst rein
bleibend und kindlich wie ein Jesusknabe, bewegt
und zitternd und ständig ganz hingerissen von denGe^
heimnissen und Schönheiten des Lebens, dieses Lebens,
das über den Tod triumphiert und hoch hinaus wächst
über alle Pedanterie und Häßlichkeit.
Hs ist der Ruhm Ensors, daß er — der Initiator
der neuen belgischen Kunst, der begeisterte Vorläufer
all 7 unserer Verwegenheit und Unabhängigkeit —- bis
zu dieser Stunde der hinreissende Phantast, der lyrische
Erwecker und der großartige Kolorist geblieben ist als
der er sich uns auch in seinem letzten Werke wieder
offenbart.