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Daß die Angelegenheit sehr seltsam ist,
fällt einem bald auf, mag man zu dem Leben
stehen wie man will'. Es ist wahrscheinlich,
daß du Beamter bist, 3000 Mark verdienst,
eine Frau unterhalten mußt, mit ihr in Ehren
drei Kinder (zwei Mädchen und einen Kna
ben) gezeugt hast und in politischer Hinsicht
eine liberale Anschauung vertrittst. Es wird
dir schwer, einen Augenblick den gewohn
ten Trott zu unterbrechen Deine Frau
droht schon mit allen Mitteln ihrer einge
fetteten Seele, die Kinder schreien (Papi,
Papi), der Vorgesetzte schert sich den Teu
fel um deine intellektuellen Zustände —
tausendmal magst du bereit sein, immer
treibt die Angst dich wieder an — aber
einmal, einmal kommt auch für dich, Ge
liebter, die Stunde, die du mit unberechtig
ter Sentimentalität deine Stunde nennen
wirst: Du erkennst dies Leben und insbeson
dere dein Leben, als einen wüsten Taumel,
eine Brutalität ohne Ende, als einen ewi
gen Kampf, sich und alles zu verschlech
tern. Und du bist nicht mal erstaunt, ord
nest sogleich eine Erkenntnis so wichtiger
Art deinem bourgeoisen Glaubensbekennt
nis ein und hast schon wieder die Geste:
wo bleibt mein Kaffee — oder jetzt laßt
Vater in Ruhe, er muß die Zeitung lesen.
Dein Gesicht glänzt, als hätte man es mit
Lack abgerieben, und deine Hosen schlot
tern um deinen wohlgenährten Leichnam.
Doch einmal noch, irgend wann, vielleicht,
wenn du eine Flasche Piesporter oder
Rauenthaler Kesselring getrunken hast,
kommt dir die Erinnerung an jene Minuten,
als du mehr vom 1 Leben wußtest und sozu
sagen eine bebende Erkenntnis besaßt. Die
Huren mit ihren hohen Beinen reizen dich
plötzlich, ein weißes Haus wird ein weißes
Tier, ein Pferd mit unerhörten Farben. Du
fluchst, frißt und fluchst — das Leben hat
dich wieder.
Dem Dr. Walter Billig ging es ähnlich, aber
doch ganz anders. Es gehört schon eine
gewisse Intelligenz dazu, einen Ekel zu emp
finden, wenn man von den Leuten mit Herr
Dr. angeredet wird. Die Wirtin tut es aus
Berechnung, der Bettler aus Berechnung,
die offiziellen Stellen aus Dummheit und
die Leute aus Gleichgültigkeit. Jemand
schreit auf der Straße: „Einen Augenblick,
Herr Dr. !“ Billig dreht sich um. Er ist
sehr nervös. Da ruft ein Lahmer einen Buck
ligen, Sie hassen das Leben und sind be
reit, mit ihren Krückstöcken alle Kinder
der Straße zu töten. Aber der Titel hält
sie hoch und der gute Wahnsinn findet in
ihm ein Hindernis. Der Titel ist ihre Wol
lust und ihr Freudenhaus — er kürzt die
Zeit und ersetzt die Frau. Billig, der sich
durch sich selbst mit den Dingen beschäf
tigt, versteht alles und rast. Er rast durch
die Straßen, findet in ihnen das nächste
Objekt seiner Wut, stößt gegen die elektri
schen Straßenbahnen, stolpert vor den Pfer
den der hochbeladenen Omnibusse, landet
endlich in der dritten Klasse der Untergrund,
wo er erschöpft und wütend sitzen bleibt.
Durch einen reinen Zufall kommt er in
seine Wohnung, wo ihn die Wirtin mit ge
spreizten Beinen und hohnlachendem Ge
sicht empfängt. Er gleicht dem Mann bei
Poe, dort wo einer atemlos nächtelang Lon
don durchkreuzt, sich mit verzerrtem' Ge
sicht, fast kotzend in die idiotische Menge
stürzt, mit wütenderem Gesicht hochkommt,
sich der Träume erinnert, wo man gezwun
gen war, mit stumpfem Arm gegen Giganten
zu kämpfen, weiterrast, stolpert und brüllt.
Die Wirtin, die immer Mutterstelle vertre
ten will, sagt: „Hören Sie, Doktorchen —
Sie könnten ein vernünftigeres Leben füh
ren — teilen Sie sich Arbeit und Vergnügen
richtig ein — ach nein, ein so junger Mann
und so schläfrig.“ Billig hört nicht mehr.
Er fühlt sich als Wäschefetischist und ist
nur im Nebenberuf Syndicus der A. Y. K. Ca.
Er stöberte in «dem großen Wäscheschrank,
der die breiteste Wand seines Zimmers be
deckt — die Materialisation unglaublichster
Geister, ein weißer Wald mit seltenen Schat
tenvögeln, eine Eisgrotte mit heiligen Feu
ern, aus denen der Vulkan brechen kann.
„Was ist die Schale ohne die Frucht?“ sagt
sich der Esel — „was ist die Hülle ohne
das Weib?“
„Das kann alles sein,“ antwortet der be
seligte Dämmerzustand, — „das kann alles
sein — insofern es die Phantasie heraus-