ist, desto näher findet sich der Gedanke im Einklang mit der Methode des
mathematischen Denkens; desto näher kommen wir dem Ur-Gefüge, und
desto universeller wird die Kunst werden. Universeller darin, daß sie ohne
Umschweife direkt sich ausdrückt. Daß sie direkt, ohne Umschweife emp-
funden werden kann.
Man wird dem entgegenhalten, das sei keine Kunst mehr. Mit dem gleichen
Recht könnte man behaupten, eben erst das sei Kunst. Es stünde Behauptung
gegen Behauptung. Und auf ein anderes Gebiet übertragen, würde diese Be-
hauptung bedeuten: Nur die euklidsche Geometrie ist Geometrie und die —
neuere — von Lobaschevsky und Riemann nicht...
Solche neue Kunst verdankt ihr Entstehen einer Vision, die sich in einem
Gebiet bewegt, das dem Denken zugänglich ist — das ein gewisses Maß von
Sicherheit bietet, wie gleichermaßen Unbekanntes, Unbestimmbares; sich
also auf einem Grenzgebiet bewegt, das es ermöglicht, neue Blickfelder zu
öffnen und sinnlich wahrnehmbar zu machen. Der Unterschied zwischen der
herkömmlichen Kunstauffassung und der hier vertretenen mag etwa derselbe
sein wie jener zwischen den Gesetzen von Archimedes und der heutigen
Astrophysik. Archimedes ist noch immer in vielen Fällen maßgebend, aber
nicht mehr in allen. Phidias — Raffael — Seurat haben Kunstwerke ihrer
Zeit gestaltet, mit den Mitteln ihrer Zeit. Aber die Blickfelder haben sich
seither erweitert; die Kunst hat Gebiete erfaßt, die ihr früher verschlossen
waren. Eines dieser Gebiete bedient sich einer mathematischen Denkweise,
die trotz ihren rationalen Elementen viele weltanschauliche Komponenten
enthält, die bis über die Grenzen des Unabgeklärten hinausführen.
Max Bill