Weströmisch (?) Alexandrinisch (?), 4. Jahrhundert n. Chr.
4? DIE LIPSANOTHEK (RELIQUIENBEHÄLTER) VON BRESCIA
Elfenbein 32X22 25
Brescia, Civico Museo Cristiano
Elfenbeinplatten auf Unterlage von altem Nußbaumholz. Vorderansicht: im mittleren Feld
der Fisch, die Heilung des blutflüssigen Weibes, Christus unter den Schriftgelehrten, das
Gleichnis vom guten Hirten, der Hahn (Symbol der Wachsamkeit); oben: Jonas, der vom
Walfisch verschluckt und wieder ausgespieen wird; unten: Susanna zwischen den Greisen,
Daniel befreit Susanna, Daniel unter den Löwen.
Deckel: sechs Tauben zwischen Schleiern, auf denen Vogelfutter ausgebreitet ist (die christ-
lichen Seelen), Christus im Garten von Gethsemane, die Gefangennahme Jesu, die Verleugnung
des Petrus, Jesus vor Kaiphas und vor Pilatus. In den 15 Randmedaillons um das feine Bildnis
des bartlosen Christus die 11 Apostel, Matthäus, Paulus und Bärnabas.
Hinterseite: Im Mittelfeld das himmlische Jerusalem (Turm), Jesus am Meeresufer zwischen
Andreas und Petrus (oder Philippus), die Episode von Ananias und Saphira, der gehängte
Judas; oben: Susanna (?), Jonas unter dem Kürbis, Daniel und der babylonische Drache;
unten: Moses, der aus den Wassern gerettet wird und einen Aegypter niederschlägt, das Mahl
von Kana (?).
Rechte Seitenfläche: im mittleren Feld der symbolische Lebensbaum, Jesus heilt den Blinden,
Jesus erweckt Lazarus, andere christliche Symbole; oben: Moses löst die Fußbekleidung auf (?),
die sieben Makkabäer (?), Moses auf dem Sinai (?); unten: Jakob und Rachel am Brunnen,
Begegnung zwischen Jakob und Esau (?). Linke Seitenfläche: im mittleren Feld: Jesus heilt
die Schwiegermutter des Simon Petrus; oben: David und Goliath, der Mann Gottes wird
vom Löwen getötet und vom Esel hewacht (Könige, I, Kap. 13), Jerobeam mit der von Gott
zum Verdorren gebrachten Hand neben dem Altar von Bethel (Könige, I, Kap. 13); unten:
die Hebräer bereiten ein Festmahl zu Ehren des goldenen Kalbes.
Um das außergewöhnlich wertvolle Werk entstand schon früh eine ausgedehnte Literatur. Die
genaue Interpretation der verschiedenen Darstellungen wurde im Prinzip schon 1845 von
Odorici (233, I, 8. 62, 88) versucht und gelöst, und dann von Venturi (311, I, 8. 456 ff) defini-
tiv festgelegt. Was die Entstehungszeit anbelangt, so sind Venturi und die neueren Forscher,
unter ihnen Kollwitz (162), darin einig, daß sie zwischen das Ende des 4. und den Anfang des
5. Jahrhunderts fällt. Stuhlfauth (297, S. 40) bringt die Lipsanothek in nahe Verbindung mit
dem Diptychon Carrand und der kleinen Schachtel (Nr. 58) des Britischen Museums und
schreibt sie einem römischen Kunsthandwerker zu. Ihm widerspricht Graeven, der auch eine
stilistische Aehnlichkeit der drei Stücke bestreitet. Wulff (337, 8. 220), der die Aehnlichkeit
mit dem Sarkophag der Arkaden betont, glaubt an antiochischen Ursprung, Becker (23, 8. 194)
und Strzygowski (296, S. 23 ff) sind für die asiatisch-orientalische Schule.
Zusammenfassend ist zu bemerken, daß die Kostüme der Personen, Möbel, Waffen ete., alle
westlicher Prägung und bedeutend älter als Kostüme und Möbel der Diptychons, eine sichere
Datierung erlauben; die Aehnlichkeit mit den konstantinischen Sarkophagen (Junius Bassus
ete.) läßt an ein weströmisches Werk denken, was auch bestätigt wird durch die enge Anlehnung
an einen kanonischen Text (das Evangelium des Lukas), während Schnitt und künstlerische
Fertigkeit eher auf einen orientalischen, wahrscheinlich alexandrinischen Künstler deuten.
Das Werk dürfte nicht von Anfang an eine Lipsanothek gewesen sein, da im 4. Jahrhundert
der Reliquienkult verpönt war, sondern eine Schatulle für Geschenke und Dokumente. Nach-
dem es ganz auseinander genommen und jahrhundertelang auf die Kreuzform reduziert worden
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