durch die Erkenntnis im Alter immer klarer und deutlicher in
Erscheinung tritt. Das Bewußtwerden der großen Zusammen-
hänge des Lebens, und trotz der Bewußtheit das Strömen des
Blutes innerhalb der Pinselführung, vollenden das Werk. —
Die Kraft der großen Kunst ist paradox. Die Polaritäten müs-
sen in Harmonie gebracht werden. Als solche Paradoxe
empfinde ich monumental und lieblich, gewaltig und zierlich,
warm und kalt, hell und dunkel und vom hellsten ins dunklere,
vom dunkelsten ins hellere usw. usw. Das beständige Hin- und
Her-Atmen, von leer nach voll, von voll zurück nach leer, das
ergibt Weltatmosphäre im Kunstwerk, im Gegensatz zu dem
Fertigmachen eines Manieristen. Alles muß offen gehalten
werden, und jeder Tag ist ein neues Anfangen. —
Die Leidenschaft und das Temperament eines Malers glei-
chen einem rasenden Hengst, der in jedem Augenblick ge-
zügelt werden kann, um wiederum loszurasen. —- Das ganze
Kunstwerk ist zugleich Aufbau und Niederreißen, bis es als
Gesamtheit allmählich wachsend auf die Ebene kommt, auf
der das oberste Gesetz, die künstlerische Objektivität, regiert.
Das Kunstwerk darf nicht «zemacht» werden, wie schon
gesagt, sondern es muß wachsen. Der Geist eines Werkes muß
vibrieren, eben aus dieser Gesamtkomposition des Lebens, in
der alle Cliche&s auf einander passen, immer ein Gesamtergeb-
nis sind, und jeweils nach getaner Arbeit einen wertvollen Zu-
stand bedeuten. In der Jugend habe ich versucht, ein Bild
«fertig» zu machen, dabei sind drollige Naivitäten heraus-
gekommen. Heute bin ich durch das Ausharren und den Glau-
ben zu der Erkenntnis gekommen, daß die Kunst ein natür-
liches Gewachsenes darstellen soll, das unumschränkt in allen
Formulierungen und Variationen jubilieren kann. —
In meinen Erstlingsradierungen habe ich ein paar Jüng-
linge dargestellt, die durch Dorngestrüpp hinauf streben —
nicht ahnend, wie dieses Gestrüpp, diese Widerwärtigkeiten
sich noch steigern sollten. Durch die Intensität und das Ringen
um die Natur-Wirklichkeit mit den Mitteln der reinen Malerei
(das dem Alemannen ferner ist) mußte sich natürlich das ganze
Nervensystem verfeinern, und es gab Zeiten, in denen die Ner-
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