Wenn ein Künstler vor uns mit einer umfassenden Sonderausstellung über seine Umgebung her-
ausgehoben wird, so geht unsere Neugierde nach seinem eigentlichen Wesen, gewissermaßen der La-
dung, mit der er zur Erfüllung seines Werkes ausgestattet ist, und nach der Sprache, die er wählt um
sein Inneres zu äußern, dem Kleid, ın dem er vor uns tritt. Beiträge zum Bild der menschlichen und
künstlerischen Persönlichkeit von Juan Gris liegen von seinen Freunden vor. Eine Auswahl daraus
bietet das stattliche Buch, zu welchem dank dem Eintreten eines Freundes des Kunsthauses der
Zürcher Ausstellungskatalog hat erweitert werden können. Zu ergänzen wäre sie allenfalls durch den
vollständigen Text der Monographie von Daniel Henry und ein Widmungsblatt von Gertrude Stein,
das in deutscher Übersetzung in den kleinen Ausstellungskatalog der Galerie Flechtheim vom Fe-
bruar 1930 aufgenommen worden ist. Der kostbarste Beitrag ist der Text der Vorlesung des Künstlers
vom 15. Mai 1924 in der Pariser Sorbonne über die «Möglichkeiten der Malerei».
Es ist eine klare, in den Gelenken sicher spielende Entwicklung einer Theorie der Malerei. Gris sieht
diese technisch als eine Art von «Architecture plate et coloree», das Bild als Schöpfung, die als Ganzes
den Beziehungen des Künstlers zur Welt der Dinge entspricht und sich aus Formen von bestimmter
Art und Ausdehnung in Farben von bestimmter Art und Dichte aufbaut, wobei aber nur der Gedanke
an das Gebilde aus farbigen Formen, das Werk, nicht an ein zu reproduzierendes Ding, für den Künstler
bestimmend ist und Elemente aus verschiedenen Welten, Erregungen von verschiedener Wesensart,
nicht zusammengebracht werden dürfen. Die Aufgabe und Möglichkeit der Malerei liegt im Ausdruck
gewisser Beziehungen des Malers zur Außenwelt, das Bild ist die innige Verschmelzung dieser Bezie-
hungen untereinander und mit der begrenzten Fläche, die es umschließt. Die eingehend und konsequent
entwickelte Darstellung hat als Bekenntnis zu Verantwortung und Maß nicht nur ästhetische, sondern
auch sittliche Geltung, sie ôffnet den Abgrund, der Gris von dem unbändig und maßlos hinstürmenden
Picasso trennt.
Das Werk soll zeigen, wie er den abgesteckten Weg geht, und wohin er ihn führt. Es gibt Kunst-
freunde, die gleiten mit einem Blick über die Bilderwände wie der Wind über das Wasser und haben
rasch das Urteil und das abschätzende Wort bereit, sie sehen oft nur das Gekräusel, mit dem sie
selber die Oberfläche trüben und sich den Blick zur Tiefe verschließen. Vor solchen Betrachtern ist
Gris verloren. Er beginnt als begabter Jünger der neuen Bewegung und sucht während der Jahre
1910 bis 1915 mit Andern auf die verschiedenen Fragen Antwort, die sie stellt. Dann findet er als
Mann sich zu Freiheit und Sicherheit der Äußerung in ruhiger Kraft, wie das Bewußtsein der tieferen
Übereinstimmung mit der eigenen Zeit und Aufgabe sie gewährt. Und vom Beginn des letzten Jahr-
fünftes an, um 1920, da ıhn die Krankheit bereits streifte, füllt er sein Werk noch dichter und aus
schließlicher in einer gedämpften Heftigkeit, die an tragische Größe rührt.
Auch Fernand Leger, sechs Jahre älter als Juan Gris, gibt 1927, im Jahr von dessen Tod, sein
künstlerisches Bekenntnis, im «Querschnitt» und einem Berliner Katalog von A. Flechtheim. Er führt
seine Bilder ein als «vertikale Kunst mit einem Minimum von Perspektive und Tiefenwirkung». Wie
Gris spricht er von der Linearperspektive mit Geringschätzung; auch er stellt der «optischen Stoff-
abbildung» der italienischen Renaissance das Ziel einer eigengesetzlichen, nur «plastischen», das heißt
bildenden statt abbildenden Kunst entgegen. Die Kubisten haben für die Überwindung des alles
beherrschenden «Sujet» gestritten und sind bis zum «abstrakten» Bild gelangt. Léger will aber vor
diesem Schritt ins Leere wenigstens für das Staffeleibild innehalten, für welches andere Bedingungen
gelten als für die Wandmalerei, die in ihren direkten Beziehungen zur Architektur auf Gegenständ-
lichkeit verzichten kann. Er findet die Befreiung vom traditionellen Bild mit Sujet in einem Kult des
einzelnen Gegenstandes, des «Objekts», des Dinges, das nicht wie bei Gris vom konstruktiven Bild-
gedanken aufgesogen und ın seiner Substanz verändert, sondern in seiner vollen plastischen Gestalt
erhalten und herausgestellt wird, und als Individuum, Objekt im Raum, das Bild ausmacht. Leger
macht das losgeloste Objekt, den bestimmten sichtbaren Gegenstand, zum «Sujet» des Bildes.