GIEDION
Die Schweiz liegt in der Mitte Europas. Sie ~ Diese Maler, von denen sicher jeder einen orga-
ist umgeben von grossen Nationen mit denen sie nischen Ablauf seines (Euvres nachweisen kann,
die Sprachen teilt. Sie ist gewiss nicht dazu berufen, sind, mit vielen andern, Teile einer Gesamtbewegung
dass sie den Grösseren, die sie umgeben, den Weg des Kubismus.
bestimmt, aber sie ist andererseits ihrer ganzen Der Kubismus hat zwischen 1908 und 1914 die
Erziehung und Haltung nach nicht nur bestimmt, Elemente für eine neue optische Erfassung der
ein Mitläufer zu sein, der einfach aufnimmt, was Welt geschaffen, auf denen für lange hinaus unser
für die Andern bereits erledigt ist. Sehen beruhen wird. Darum sind die Ausstellungen
Der verhältnismässig hohe Lebensstandard und eines Picasso-Braque, Leger, Gris, und die Ueber-
das ruhige Continuum ihrer Entwicklung lässt sie sicht über ihr Werk nicht einfach retrospektive
von vornherein dazu Darbietungen, sondern die
bestimmen, die Dinge, Deutlichmachung unserer
um die in den grossen heutigen visuellen Ent-
Zentren gekämpft wird, wicklung. Wem diese neue
nicht nur registrierend auf- visuelle Entwicklung nicht
zunehmen, sondern in ihrer zum inneren Bestandteil
neutralen Atmosphäreauch seines Wesens geworden
kritisch nach zu prüfen. ist, der wird auch die
Wenn die Schwiez in räumlichen und æsthetis-
der letzten Zeit auf dem chen Grundlagen der heu-
Gebiet der Malerei in ihren tigen Architektur immer
offiziellen Kunsthäusern wieder missverstehen.
(Basel, Bern, Zürich) ver- Die verschiedenen gros-
schiedene Ausstellungen sen Schweizer Ausstellun-
gemacht hat und weitere gen auf diesem Gebiete
in dieser Richtung beab- sollen die langsam sich
sichtigt, die sich mit entwikkelnde Tradition des
neuer Malerei beschäftigen, heutigen Sehens vor uns
die z. T. mehr als 20 Jahre selbst klar machen. Das
zurückliegt, so handelt es ist ihr eigentlicher Sinn.
sich dabei nicht um re- Gewiss gibt es auch in
trospektive Darbietungen der Schweiz immer noch
für die die «Provinz» all- viele Gegner. Aber man
mählich reif geworden ist, konnte an der Picasso-
sondern darum : in einer Ausstellung erkennen, dass
Atmosphäre, die die ôrt- das Publikum wirklich
lichen Intriguen des Ent- aufgewühlt wurde, und sich
stehungsortes nicht zu be- ernsthaft mit den Erschei-
furchten hat, nachzuprü- nungen auseinandersetzte.
fen, wie weit die Er- Heute fällt der Schweiz,
scheinungen lebendige Be- wie schon manchmal im
standteile unseres Wesens 79390. Verlaufe der Entwicklung
und unserer Zeit sind. — die wichtige Rolle
1929 hat das Zürcher Kunsthaus einen kurzen zu, eine Kulturfront aufzurichten. Nördlich ihrer
Ueberblick über die verschiedenen Richtungen jener Grenze wird heute in kulturellen Dingen alles un-
Malerei gegeben, die den grossen visuellen Wandlun- gesichtet mitüberrannt, was zukünftige Ansätze
gen dieses Jahrhunderts Rechnungträgt. 1932 folgte gebildet hatte. .Die Schweiz, die früher in der Mitte
die grosse Picasso-Ausstellung mit über 30.000 Besu- lag, ist heute ein Grenzposten geworden. Ein
chern (d. h. jeder zehnte Bewohner der Stadt ist Grenzposten, in dem die Entwicklung des Westens
durch die Ausstellung gegangen). Dem frühver- 3er- endigt.
storbenen J. Hoffmann-Stehlin verdankt Basel die Gleichzeitig aber ein Zufluchtsort, der im Masse
erste offizielle Ausstellung Hans Arps (1932). Und seiner bescheidenen Kräfte dafür zu sorgen hat,
jetzt wird gleichzeitig in Basel das Gesamtwerk dass die Werte, die mühselig in den letzten 30 Jahren
von Georges Braque und in Zürich Juan Gris und geschaffen wurden, nicht alle dem Untergang ver-
Fernand Leger gezeigt. fallen.