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Aber diese Einzelzüge sind völlig unaufdringlich und
haben durchaus nichts Gedankenhaft-Blasses. Sie tönen
mit im vollen sinnlichen Choral. Sie dirigieren nicht
die Kunst, sondern sie sind eine Ergebnisform der Kunst.
Die Kunst selber aber ist unbedingte Herrscherin und
Inhalt. Sie ist sich Selbstzweck und Entwicklungsziel.
Und man darf vor diesem Bilde — wie vielleicht vor
dem Gesamtwerk Segantinis — ein erleuchtetes Wort
Nietzsches wiederholen, das da lautet: „Man ist um
den Preis Künstler, daß man das, was alle Nicht
künstler Form nennen, als Inhalt, als die Sache
selbst empfindet." Zutreffenderes, Tieferes ist nie über
Kunst gesagt worden. Alles „Bedeutungsvolle", „Sym
bolische" ist lediglich nebensächlich; die „Sache selbst"
der „Inhalt" eines Kunstwerkes ist seine Form, das
heißt sein individueller Stil. In diesem drückt sich das
feinste Empfinden der Künstlerseele aus, ihr tiefstes Ge
heimnis und ihre hellste Klarheit, ihr innerstes Wollen
und ihr entschiedenstes Können. Was aber Segantinis
Formstreben war, das hat er, scheinbar ganz gelegent
lich, in einem seiner Briefe an Viltore ausgedrückt und
dort in einen Satz gemeißelt, der ewige Dauer bean
spruchen darf, und der in seiner Schlichtheit und schein
baren Selbstverständlichkeit an den oben zitierten Aus
spruch Nietzsches ergänzeud heranreicht. „Wenn einer
elwas schaffen will," schrieb er, „das Dauer haben soll,
so muß er seine Kräfte zusammenraffen und alles aus
merzen, was für die Ausdrucksforin des Ganzen nicht
nötig ist." Eine strengere Forderung an sich selbst
kann ein Künstler, der aus der Fülle der Erscheinungen
schöpft, überhaupt nicht aufstellen. Die Notwendigkeit
als formbildendes und stilgebendes Prinzip: wie wuch
tig, wie lapidar, wie für die Ewigkeit ist das gedacht.
Eine ungeheure Herrschaft über den Stoff muß erreicht
sein, wenn diese Forderung nicht zur dürren Formel
zur Erstickung des eigenwillig empordrängenden Lebens
werden soll. Aber wer diese Herrschaft hat, dem ist sie
eine Zauberformel. Und uns Deutschen geziemt cs wohl,