Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

Gotteshaus steht, für das er geschaffen wurde, ist das vom 
Bürgermeister Peter Rot für die Basler Barfüsserkirche 
bestellte Retabel.* Stilistisch eng verwandt, dürfte es vom 
selben Meister wie die Zürcher Tafeln stammen. Gleich 
hoch, aber merklich steiler proportioniert, zeigt auch die- 
ses auf der Aussenseite eine einzige Szene, die Auferstehung 
Christi. So lag es nahe, das Profil des originalen Basler 
Rahmens bei der Zürcher Rekonstruktion zu kopieren, 
denn eine solche Einfassung bildet einen unverzichtbaren 
Bestandteil der ästhetischen Wirkung älterer Gemälde: 
ihre Modellvorstellung ist seit van Eyck und Leon Batti- 
sta Alberti der Blick aus dem Fenster. Entsprechend muss- 
te auch der räumliche Zusammenhang durch andeutende 
Ergänzungen unseres Restaurators Paul Pfister oben links 
und unten rechts wieder geschlossen werden. Nur so 
konnte zugleich das in der nordischen Spätgotik ent- 
scheidende expressive Gefüge der Dinge in der Bildfläche 
zurückgewonnen werden. In diesem nicht von der Zen- 
tralperspektive, sondern vom Blick geformten Raum“ 
bestimmen Ausdruck und Einbindung in eine der Erzäh- 
lung dienende Struktur die Stelle der einzelnen Gegen- 
stände. Dass Vorder- und Hinterteil von Ochs und Esel 
nun wieder exakt zusammenstimmen, gibt ihnen neues 
Leben; noch wichtiger ist, dass das Gefüge des Daches, 
der Sparren und Balken in parallelen Diagonalen und 
doppeltem Knick den Blick der Maria zum Kind kompo- 
sitorisch begleitet und aktiviert und die kunstvolle 
Rhythmik des Bildes wieder zusammenklingt. 
So ist das Werk, das kaum eine Generation seiner 
ursprünglichen Funktion diente, nach einem halben Jahr- 
tausend soweit wie möglich wieder hergestellt. Namen 
und Wappen der einstigen Stifter sınd vergessen und ver- 
schollen; doch im Museum verbindet sich diskret, aber 
für die betreffende Familie und ihre Nachkommen doch 
bedeutungsvoll, ein neuer Stiftername mit dem alten 
Werk. Statt zum Seelenheil dient es nun dem kollektiven 
Gedächtnis und dem ästhetischen Genuss einer profanen 
Öffentlichkeit. Statt in einem liturgischen Zusammen- 
hang steht es hier in einem kunsthistorischen: umgeben 
von Gemälden der anderen «Nelkenmeister», jener im 
späten 15. Jahrhundert in der Schweiz führenden Maler, 
die ihre Tafeln mit einer roten und einer weissen Nelke 
bezeichneten.® Von diesen steht es dem Hauptwerk der 
Gruppe, dem Hochaltar der Fryburger Franziskanerkirche 
am nächsten. 1479 bei dem Solothurner Stadtmaler Alb- 
recht Nentz in Auftrag gegeben, war er bei dessen frühem 
Tod Ende Juli des gleichen Jahres erst «etwas zubereitet». 
Der Basler Bartholomäus Ruthenzweig übernahm mit der 
Bedingung, sich in Solothurn niederzulassen, das Werk, 
«daz er mit zubereiten und malen durch knecht 
gemacht.»” Doch statt zu übersiedeln, empfahl er auf Pro- 
teste hin seinen guten Gesellen Paulus von Strassburg, der 
die Witwe des Albrecht Nentz heiratete und bis 1492 als 
Stadtmaler der Solothurner amtete. 1488 und wieder von 
1494 bis 1499 ist ein angesehener Meister Paul, Mitglied 
des Grossen Rates, in Bern bezeugt; in der Schlacht bei 
Dornach fällt ein Meister Paul Löwensprung - «ein kunst- 
richer maler, nit ein krieger».? Ob sich alle oder ein Teil 
dieser Nennungen auf denselben Mann beziehen und ob 
dieser am Fryburger Altar mitgewirkt hat, lässt sich nicht 
schlüssig beweisen.” Da der neu geschenkte Altarflügel 
aus altem Berner Patrizierbesitz stammt — die ältere Pro- 
venienz aus Schloss Worb und dem Berner Münster ver- 
liert sich ins Sagenhafte!® — und der gleichen Werkstatt der 
Gregoraltar aus Brig im Landesmuseum entstammt, ist 
eine Identifizierung verlockend. Paulus wäre um 1455/60 
in Strassburg geboren, hätte in der Basler Ruthenzweig- 
Werkstatt an dem vor 1480 entstandenen Peter Rot-Altar 
mitgewirkt, von 1480 bis 1492 in Solothurn gearbeitet und 
anschliessend in Bern u.a. die Geburt Christi gemalt, bevor 
er 1499 in Dornach fiel. 
Die künstlerische Qualität, d.h. die plastische Präsenz 
der Figuren und die Dichte der Komposition, nimmt 
gleichmässig vom Fryburger Hauptwerk über den Rot- 
Altar und die Zürcher Flügel bis zu dem Altar aus Brig ab; 
an der stilistischen Grundlage ändert sich dabei kaum 
etwas. Die oberrheinische Kunstlandschaft kennt im 
15.Jahrhundert einen regen Austausch zwischen den grös- 
seren — Strassburg, Basel - und den kleineren Zentren: 
Hans Tieffenthal etwa, von dem sich eine Kreuzigung von 
ca. 1420 in Colmar erhalten hat, wandert nach seiner Aus- 
bildung in Schlettstatt nach Basel, kehrt nach Schlettstatt 
zurück, ist dann einige Zeit in Strassburg bezeugt und 
stirbt in Basel.! Die Individualität des Stils ist schon 
durch die geläufige Arbeitsteilung in den Werkstätten 
wenig ausgeprägt; selbst bei dem in Colmar tätigen Mar-
	        
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