CY TWOMBLY, VENGEANCE OF ACHILLES
(DIE RACHE DES ACHILL), ROM 1962
Öl, Farbkreide und Bleistift auf Leinwand, 300 x 175 cm
Signiert und datiert rechts unten: Cy Twombly Roma 1962
Bezeichnet rechts unten: Vengeance of Achilles.
Cy Twombly hat sich 1957 nach Rom zurückgezogen, ın
der Zeit, als New York Paris als Kunstmetropole ablöste
und die Hegemonie Amerikas schwer auf der europäischen
Kultur und Kunst lastete. Sein Weggehen wirkte sich zwar
für den Künstler in der Rezeption in Amerika negativ aus,
doch für sein Werk und für uns war die Übersiedlung eines
mit den Freiheiten des abstrakten Expressionismus
vertrauten in die geschichtsträchtige Metropole am Tiber
ein unschätzbarer Gewinn. Die Freiheit von Bildgegen-
stand und Komposition, der psychisch motivierte Gestus,
die Öffnung des Bildraums, die Verwendung der Linie und
der Farbmaterie als Substanzen, das grosse Format und die
Herausforderung des schöpferischen Ichs in der Konfron-
tation mit dem virtuellen Raum des Bildfeldes gehen in
Twomblys Werk die Verbindung, die um so impulsiver mit
dem Mythos der mediterranen Kultur und dem Licht des
Südens, ein. Und führt zu Bildwürfen wie unser Hoch-
format, einer geballten Ladung: «Die Rache des Achill.»
Einzige Form ist eine nach unten sich öffnende Spitze ın
der Form eines über grossen A, dessen spitzen Teil mit roter
Farbmaterie in abrupten Stücken mit Pinsel und Finger
intensivst erfüllt, dessen unterer Teil durch die grosszügig
atmenden ungeschickt scheinenden, aber raffiniert hin-
geworfenen Linien wie zum Körpermantel wird. All das in
die weisse Bildfläche gesetzt, intensiv und luzid, frontal
und allseitig offen, einfach und vibrierend. A und Spitze
sind Schlüsselworte und -formen des hier festgehaltenen
Geschehens: Achill, der Held der Griechen zieht sich,
beleidigt durch Agamemnon, mit den Seinen im zehnten
Jahr der Schlacht um Troja aus dem Kampf zurück. Das
Kriegsglück wendet sich zugunsten der Trojaner, worauf
Achill seinem Freund Patroklos erlaubt, seine Truppen
gegen Troja zu führen. Patroklos trägt die Rüstung Achills.
Er treibt die Trojaner zurück, wird aber von Hektor getötet.
Die Nachricht treibt Achill. seinen Trotz brechend, zornig
und rachesuchend in den Kampf. Er wütet und erschlägt
alle, die seinen Weg kreuzen, zuletzt auch Hektor, den eı
mit seinem Speer, den nur er zu schwingen weiss, durch
bohrt. Den Leichnam Hektors bindet er an seinen Streit
wagen, schleift ihn von den Mauern Trojas zum Grabe des
Patroklos. Die Dominante des Bildes ist die blutige Speer
spitze, die gleichzeitig der obere spitze Teil des Buchstaben:
A ist: A=Achill. Die Linien des unteren Teils markieren
die Bündelung der Energie, die in die raketengleich nach
oben und vorwärts schiessende blutige Spitze drängt.
Der untere Teil des Bildes ist frei von Strichen, aus deı
Verletzlichkeit entsteht die Aggression. Verletzlich waı
Achill nur an seiner Ferse, an der ihn Paris mit einem Pfeil
trıfft und tötet.
Diese Bündelung von Linien und Farbspuren, aber auch
dieses Konzentrat an fast mess- und wägbaren bild
nerischen Elementen auf weissem Grund lässt die Gestalt
der Rache, der blutigen Vernichtung vibrieren. Und die
«gaucherie» der Strichführung und die Vehemenz des
Farbauftrages in der Spitze erzeugen eine Dynamik, die des
einen Leitform Energien eines überwältigenden Ereignisses
mitteilt und freisetzt: die luzide und blinde Rache des einen
ist auch der gewaltsame Tod des andern. Der Mut
Twomblys, ein komplexes Geschehen, eine psychische und
physische Entladung, eine fundamentale Aggression Sc
einfach zu bannen, als Energiediagramm eines auf ein A
oder eine Speerspitze vibrierend Reduziertes, ist bewun;
dernswert. Das Bild ist der Ort des Zusammenpralls und
der Vereinigung der befreiten Linien und der Farbe mil
dem Inhalt, dem neue Kraft zufliesst. Mythos ist nich!
Ausdeutung, sondern ein energetisch zu Erneuerndes. Nu!
so lebt er weiter.
Twombly’s «Vengeance of Achilles» von 1962 ist noch
ein Einzelbild. Es gehört in die Reihe der Bilder, die Hel
dentum, Gewalt und Tod thematisieren. Wie «Discourse
on Commodus I-IX» oder «Ides of March» ist es ein Hoch:
format, die der Künstler bevorzugt, wenn es um die
Fassung der Energiepotentiale menschlicher Psyche geht
1977/78 hat Twombly in seinem zehnteiligen Zyklus «Fifty
Days at Iliam» dasselbe Thema als drittes Bild noch einma!