Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

Der oberflächlich beschreibende Titel hilft nicht weiter — 
vielmehr drängt sich die Frage auf, ob man angesichts von 
anthropo- und zoomorphen Figuren in einer Landschaft 
von einem Stilleben sprechen kann. Diese Frage lässt sich 
aus Kokoschkas Sicht bejahen, wenn man die Entwicklung 
der unserem Bild vorangegangenen Stilleben verfolgt. 
Von den rund 100 Bildern, die vor dem ersten Weltkrieg 
entstanden sind, können nur vier Werke der Gattung Stil- 
jeben zugewiesen werden, wobei bereits das erste dieser 
Bilder, «Stilleben mit Ananas», 1909, in ikonographischer 
Hinsicht wegen der Darstellung exotischer Früchte - neben 
Ananas auch Bananen - von der europäischen Stilleben- 
Tradition abweicht. Auch wenn dieses früheste Stilleben 
Kokoschkas, das eine offensichtliche Auseinandersetzung 
mit Van Gogh zeigt, neue Wege beschritten hat, wirkt es 
doch relativ konventionell gegenüber dem nur wenig 
später entstandenen «Stilleben mit Hammel und 
Hyazinthe», 1910.2 In seinem autobiographischen Buch 
«Mein Leben» beschreibt der Künstler ausführlich die 
Entstehungsgeschichte dieses Bildes.? 
In diesem Bild vereinigt Kokoschka Gegenstände, die er im 
Hause des Sammlers Oskar Reichel gefunden hat, 
nachdem er dessen Sohn portraitiert hatte.!® Diese Gegen- 
;stände sind zwar alltäglich, jedoch bewusst gewählt. 
Wichtig in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass 
aus dem mehr oder weniger zufälligen Erleben des Künst- 
lers ein Bild entsteht, das eine über das Individuelle hinaus- 
reichende Botschaft vermittelt: Es handelt sich um ein 
memento mori. Die Todesallegorie ist in der älteren euro- 
päischen Stillebenmalerei keine Seltenheit, ist aber in der 
Kunst der Jahrhundertwende eher selten anzutreffen. 
Oskar Kokoschka, in dessen Werk sich stets Bezüge und 
Auseinandersetzungen mit älteren Traditionen feststellen 
lassen, nimmt wohl als einziger Künstler seiner Generation 
diesbezügliche Anregungen auf, die letztlich Grundlage 
seines sehr persönlichen Beitrages zum Expressionismus 
bilden. 
Erst 1913 entstand das nächste Stilleben, in dem sich auf 
:inem Tisch erneut ein gehäuteter Schafsbock findet, flan- 
kiert von einem toten Hasen sowie einer Katze.!! Auch 
wenn dieses dritte Stilleben im Vergleich zum zweiten und 
vor allem auch zum vierten nicht dieselbe Stringenz der 
Aussage aufweist, nimmt es doch wichtige Elemente des 
unmittelbar darauf folgenden Stillebens vorweg: die Ge: 
genüberstellung von Hase und Katze sowie auch die merk- 
würdige Ambivalenz des Raumes, die zwischen Innenraum 
und Landschaft zu schwanken scheint. Gerade diese 
Öffnung des Raumes erleichtert es auch, unser Bild der 
Gattung Stilleben zuzuweisen, auch wenn es letztlich 
zwischen den Gattungen steht und sich auch mit keinem 
andern Bild vergleichen lässt. 
Der Schlüssel zum Verständnis dieses Bildes liegt erneut in 
Kokoschkas unmittelbar persönlichem Erleben und zwar 
in der überaus stürmischen Liebes- und Leidensbeziehung 
zu Alma Mahler. 1912 hat Kokoschka die Stieftochter des 
Malers Karl Moll und Witwe des Komponisten Gustav 
Mahler kennengelernt. Wenn im wohl berühmtesten Ge- 
mälde Kokoschkas, der «Windsbraut»! der Überschwang 
der Gefühle im wörtlichen und übertragenen Sinne eine 
unvergleichliche, bildhafte Form gefunden hat, so muss 
unser Bild als dessen Gegenstück gesehen werden. 
Was ist geschehen? In seinen Lebenserinnerungen fasst es 
Kokoschka wie folgt zusammen: «Der Gesellschaftstratsch 
und die guten Ratschläge der Freunde hatten nur mitgeholfen, 
dass Alma Mahler ihren schon erwogenen Entschluss durch- 
führte, in die Klinik ging und sich das Kind, mein Kind, nehmen 
Kess.» Und etwas später: «Warum mein Verhältnis bereits vor 
dem Krieg zu Ende gegangen ist, daran war diese Operation in 
der Klinik in Wien schuld, die ich Alma Mahler nicht verzeihen 
wollte. Man darf aus Lässigkeit das Werden eines Lebewesens 
nicht absichtlich verhindern. Es war ein Eingriff auch in meine 
Entwicklung, das ist doch einleuchtend. Einer konstanten 
geistigen Anstrengung bedarf es, dessen bewusst zu bleiben, was 
Leben heisst. Man darf sich nicht damit zufrieden geben, dass 
man vegetiert.»3 In «Stilleben mit Putto und Kaninchen» ist 
dieses Drama bildhaft geworden. Von einem toten Baum 
an den linken Bildrand gedrängt, hat Kokoschka das tote 
Kind mit den verkniffen karikierenden Gesichtszügen 
von Alma Mahler gesetzt; die rechte Hand des Kindes 
nimmt ein Motiv auf, das in Kokoschkas Werk wiederholt 
als Leidensgestus Verwendung findet. Auch die zum Raub-
	        
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