Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

EINE NEUE MONET-WAND 
Die «alte» Monet-Wand im Kunsthaus gibt es nun schon 
seit 45 Jahren: sie vermittelte wohl nicht nur dem Schrei- 
senden dieser Zeilen den ersten ästhetischen Schock im 
Zürcher Museum. Damals befanden sich die beiden gros- 
sen Seerosen-Panneaux im jetzigen Hodler-Saal vereint 
nit dem nun an der Zollikerstrasse zu besichtigenden drit- 
en, alle drei auf Anregung von Rene Wehrli erworben 
and von Emil Bührle finanziert. Später erhielten sie ihren 
eigenen, von Bruno Giacometti erbauten Raum, etwas 
abseits und leicht zu übersehen; man betritt ihn von 
oben, so dass man zunächst auf den Seerosen-Teich hin- 
ınterblickt, wie Monet es sich wünschte. Erst wenn man 
die kurze Treppe hinuntergestiegen ist, fällt hinten links 
die «neue» Monet-Wand ins Auge, auf der neben dem Heu- 
haufen drei zauberhafte Bilder von London und Venedig 
hängen, Mittelpunkt der grossartigen Schenkung von 
Walter Haefner!: vier Gemälde, die zu einer erstaunlich 
sinheitlichen Komposition voll innerer Bezüge zusam- 
mentreten. Obwohl ihre Entstehungsdaten einen Zeit- 
raum von über zwanzig Jahren umfasst, empfindet man 
sie unmittelbar als gleichartig, der selben, sehr eigenen 
Sorte zugehörig. 
Man sieht vier Landschaftsgemälde, aber nicht wie 
üblich Felder, Bäume, Hügel: es handelt sich offensicht- 
lich nicht darum, den Betrachter zu einem Spaziergang 
ins Bild einzuladen oder ihm bestimmte topographische 
Informationen zu übermitteln. Auf der Leinwand ganz 
links wird der Blick durch einen riesigen Heuhaufen so 
blockiert, dass von seiner Umgebung kaum mehr viel zu 
sehen ist; eine weitere lässt nur mit genauer Not eine 
3rücke im Nebel ahnen. Wenn wir nicht aus der Lebens- 
geschichte Monets wüssten, dass dies die Waterloo Bridge 
in London ist und jener Kornschober hinter seinem Haus 
in Giverny stand, wäre die Lokalisierung rein unmöglich. 
Auf den anderen beiden Werken erscheinen allerdings 
zwei der berühmtesten Gebäude überhaupt; doch der 
Dogenpalast flimmert dermassen im gleissenden Sonnen- 
licht, während das Londoner Parlamentsgebäude als Sil- 
houette im Nebel verschwimmt, dass die Monumente 
eben gerade noch identifizierbar bleiben und keinerlei 
Details erkennen lassen. 
Man sieht also vielmehr Farben — Blau, Lila, Rosa, 
Orange vor allem - in geometrischen Grundformen ange- 
glichenen Flächen - Rechtecke, Trapeze, Dreiecke. Sie glie- 
dern und gestalten das Bild unabhängig von ihrer darstel- 
lenden Funktion: der Quai im Vordergrund wird wichtiger 
als der Dogenpalast, der Lichtreflex auf der Themse zum 
YHauptgegenstand. Die plastische Energie der Dinge ist wie 
aufgehoben; selbst an dem doch monumental nahen 
Zylinder und Kegel des Heuhaufens gibt es keine Model- 
lierung; Monet rückt ihn ins Gegenlicht und die Trennlinie 
zwischen Ober- und Unterteil genau auf Augenhöhe, um 
die Angaben von rundenden Schatten und sich wölbenden 
Linien zu vermeiden. Überdies wird im Zürcher Bild - und 
nur in diesem - der Schober oben vom Rahmen über- 
schnitten und so der Gegenstand fragmentiert; es erstaunt 
deshalb nicht, dass Kandinsky, als er dieses Gemälde in 
siner Ausstellung in Moskau sah, zunächst das dargestellte 
Motiv nicht erkennen konnte, ein fundamentaler Augen- 
blick auf dem Weg zur abstrakten Kunst: 
«Zu derselben Zeit erlebte ich zwei Ereignisse, die 
einen Stempel auf mein ganzes Leben drückten und mich 
damals bis in den Grund erschütterten. Das war die fran- 
zösische impressionistische Ausstellung in Moskau —- in 
erster Linie «der Heuhaufen» von Claude Monet —- und 
eine Wagneraufführung im Hoftheater - Lohengrin. 
Vorher kannte ich nur die realistische Kunst, eigentlich 
ausschliesslich die Russen, blieb oft lange vor der Hand 
des Franz Liszt auf dem Porträt von Repin stehen u. dgl. 
Und plötzlich zum erstenmal sah ich ein Bild. Dass das 
ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Erkennen 
konnte ich ihn nicht. Dieses Nichterkennen war mir pein- 
lich. Ich fand auch, dass der Maler kein Recht hat, so 
undeutlich zu malen. Ich empfand dumpf; dass der 
Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte mit Erstau- 
nen und Verwirrung, dass das Bild nicht nur packt, son-
	        
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