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Hinweise auf Neuerwerbun ge n
MAURICE DENIS
VIRGINAL PRINTEMPS
EINE SYMBOLISTISCHE IKONE
«Über das Geistigein der Kunst» – so betitelte Kan-
dinsky seinen für die Entstehung der abstrakten Kunst
grundlegenden Essay. Dieses «Geistige» ist der Gegen-
pol zum illusionistischen Abbilden der materiellen
Welt, das die Malerei des 19. Jahrhunderts beherrsch-
te;eswurzeltimIdealismusderRomantik,deralsver-
deckte Unterströmung auch im Realismus über weite
Strecken wirksam bleibt, um gegen Ende des Jahrhun-
derts im Symbolismus wieder in vielfacher Formandie
Oberfläche zu treten. «Verspätete» Romantiker, wie
die englischen Präraffaeliten, insbesondere Burn e-
Jones, Arnold Böcklin oder Puvis de Chavannes, die
in bewusster Steigerung der künstlerischen Mittel die
Darstellung materieller Gegenstände auf eine trans-
zendente Dimension durchsichtig machten, werden
nun die Leitsterne für die Jungen. Unter diesen kommt
der Grup pe der «Nabis» und ihrem Wortführer Mau-
rice Denis besondere Bedeutung zu – vielleicht weni-
ger wegen ihrer künstlerischen Potenz als durch die
Konsequenz, mit der sie die Wende vom Illusionismus
zur Zelebration der primären künstlerischen Mittel –
Farben, Linien, Flächen – vollzogen; ge rade die ersten,
kleinen Bilder von Denis scheinen bis an die Grenze
zurAbstraktionzuführenundsodenWegfürMatisse
und Kandinsky zu bahnen. Wie mit einem Fanfarenruf
hebt seine Programmschrift von 1890 mit dem endlos
wiederholten Satz an: «Se rappeler qu’un tableau –
avantd’êtreunchevaldebataille,unefemmenueou
une quelconque anecdote – est essentiellement une
surface plane recouverte de couleurs en un certain
ordre assemblées.»
Die Wahrheit, die diese «Propheten» – denn dies
bedeutet «Nabis» auf Hebräisch – verkündeten, war
zwar keine neue, sondern den Künstlern bisins18.
Jahrhundert geläufig; erst im 19. Jahrhundert geriet
sie gelegentlich in Vergessenheit. Entsprechend ist
der Essay mit «Définition du néo-traditionnisme» beti-
teltundbildetzu drei Vierteln ein Pamphlet gegen den
Naturalismus. Der wesentliche Teil des Satzes – «une
surface plane recouverte de couleurs en un certain
ordre assemblées» wurde dem kaum zwanzigjährigen
Studenten durch den wenig älteren Sérusier übermit-
telt,derihnausGesprächenmitPaulGauguininPont-
Aven destilliert hatte. Er fand im sogenannten «Talis-
man», einer kleinen unter dem «Diktat» von Gauguin
gemalten, nahezu abstrakten Landschaft auch eine
beispielhafte Umsetzung inein Bild – auf dieses wird
sich Matisse noch 1908 in seinem gegenständlich
ebenfalls schwer lesbaren «Barbizon» im Kunst-
haus beziehen, das eine wesentliche Eta ppe in seiner
«Farbfeld-Malerei» darstellt. Hier finden sich auch die
vier Panneaux «Quatre femmes au jardin» von Pie rre
Bonnard, die diese radikale Flächigkeit zum ersten
Mal in grösserem Massstab realisierten – und später
Denis zu seinem Portrait von Mme Ranson inspirier-
ten. Gleichzeitig mit dem Text Denis’ oder sogar etwas
früh er entstanden, zeigen sie die andere wesentliche
Quelle für die formale Gestaltung dieser radikalen Flä-
chigkeit: die japanische Kunst.
Doch betrachten wir, wie sich diese «surface plane» in der Praxis darstellt: Auf den ersten Blick