Volltext: Jahresbericht 2008 (2008)

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Hinweise auf Neuerwerbun ge n 
MAURICE DENIS 
VIRGINAL PRINTEMPS 
EINE SYMBOLISTISCHE IKONE 
«Über das Geistigein der Kunst» – so betitelte Kan- 
dinsky seinen für die Entstehung der abstrakten Kunst 
grundlegenden Essay. Dieses «Geistige» ist der Gegen- 
pol zum illusionistischen Abbilden der materiellen 
Welt, das die Malerei des 19. Jahrhunderts beherrsch- 
te;eswurzeltimIdealismusderRomantik,deralsver- 
deckte Unterströmung auch im Realismus über weite 
Strecken wirksam bleibt, um gegen Ende des Jahrhun- 
derts im Symbolismus wieder in vielfacher Formandie 
Oberfläche zu treten. «Verspätete» Romantiker, wie 
die englischen Präraffaeliten, insbesondere Burn e- 
Jones, Arnold Böcklin oder Puvis de Chavannes, die 
in bewusster Steigerung der künstlerischen Mittel die 
Darstellung materieller Gegenstände auf eine trans- 
zendente Dimension durchsichtig machten, werden 
nun die Leitsterne für die Jungen. Unter diesen kommt 
der Grup pe der «Nabis» und ihrem Wortführer Mau- 
rice Denis besondere Bedeutung zu – vielleicht weni- 
ger wegen ihrer künstlerischen Potenz als durch die 
Konsequenz, mit der sie die Wende vom Illusionismus 
zur Zelebration der primären künstlerischen Mittel – 
Farben, Linien, Flächen – vollzogen; ge rade die ersten, 
kleinen Bilder von Denis scheinen bis an die Grenze 
zurAbstraktionzuführenundsodenWegfürMatisse 
und Kandinsky zu bahnen. Wie mit einem Fanfarenruf 
hebt seine Programmschrift von 1890 mit dem endlos 
wiederholten Satz an: «Se rappeler qu’un tableau – 
avantd’êtreunchevaldebataille,unefemmenueou 
une quelconque anecdote – est essentiellement une 
surface plane recouverte de couleurs en un certain 
ordre assemblées.» 
Die Wahrheit, die diese «Propheten» – denn dies 
bedeutet «Nabis» auf Hebräisch – verkündeten, war 
zwar keine neue, sondern den Künstlern bisins18. 
Jahrhundert geläufig; erst im 19. Jahrhundert geriet 
sie gelegentlich in Vergessenheit. Entsprechend ist 
der Essay mit «Définition du néo-traditionnisme» beti- 
teltundbildetzu drei Vierteln ein Pamphlet gegen den 
Naturalismus. Der wesentliche Teil des Satzes – «une 
surface plane recouverte de couleurs en un certain 
ordre assemblées» wurde dem kaum zwanzigjährigen 
Studenten durch den wenig älteren Sérusier übermit- 
telt,derihnausGesprächenmitPaulGauguininPont- 
Aven destilliert hatte. Er fand im sogenannten «Talis- 
man», einer kleinen unter dem «Diktat» von Gauguin 
gemalten, nahezu abstrakten Landschaft auch eine 
beispielhafte Umsetzung inein Bild – auf dieses wird 
sich Matisse noch 1908 in seinem gegenständlich 
ebenfalls schwer lesbaren «Barbizon» im Kunst- 
haus beziehen, das eine wesentliche Eta ppe in seiner 
«Farbfeld-Malerei» darstellt. Hier finden sich auch die 
vier Panneaux «Quatre femmes au jardin» von Pie rre 
Bonnard, die diese radikale Flächigkeit zum ersten 
Mal in grösserem Massstab realisierten – und später 
Denis zu seinem Portrait von Mme Ranson inspirier- 
ten. Gleichzeitig mit dem Text Denis’ oder sogar etwas 
früh er entstanden, zeigen sie die andere wesentliche 
Quelle für die formale Gestaltung dieser radikalen Flä- 
chigkeit: die japanische Kunst. 
Doch betrachten wir, wie sich diese «surface plane» in der Praxis darstellt: Auf den ersten Blick
	        
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